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Mitbestimmung in der Forschung
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Mitsprache in der Forschung: Gut gemeint ≠ gut gemacht

Therapien werden besser und zielgenauer, wenn Patient:innen selbst an ihrer Erforschung und Entwicklung mitwirken. Trotzdem ist das noch keineswegs üblich. Wie können wir das ändern?

Pi Pi Ei Ih 

Jetzt fragst du dich vielleicht: Ganz schön aufwändig, so ein Leitfaden. Lohnt sich das alles?  

Die Wissenschaft beantwortet diese Frage mit einem klaren „Ja“. 

Tatsächlich basiert Liesas Vorhaben auf soliden Erkenntnissen. Eine Vielzahl von Studien hat untersucht, welche Auswirkungen „PPIE“ auf Forschungsergebnisse hat. Diese Abkürzung – ausgesprochen: „pi pi ei ih“ – steht für „Patient and Public Involvement and Engagement“, zu Deutsch: die Einbindung von Patient:innen und der Öffentlichkeit in Forschungsprojekte. 

Du ahnst es schon: Die meisten Ergebnisse dieser Studien sprechen dafür. Bereits 2012 analysierte eine britische Forschungsgruppe 66 Studien zu dem Thema. Die Liste der Vorteile, die man darin belegte, ist lang. Wir bringen ein gekürztes „Best-of-Vorteile“. 

Die Vorteile von Mitsprache in der Forschung: 

  • Es werden mehr relevante Forschungsthemen gefunden 
  • Forschungsthemen sind im Alltag der Betroffenen verankert 
  • Es werden die richtigen Fragen gestellt 
  • Bei der Studiengestaltung werden kulturelle Aspekte besser berücksichtigt 
  • Daten werden aus unterschiedlichen Perspektiven interpretiert 
  • Die Erfolgsmessung findet auch aus der Patient:innensicht statt 
  • Das Einwilligungsprozedere bei klinischen Studien wird verbessert 
  • Die Studiensprache wird besser an ein Laienpublikum adaptiert 
  • Forschungslücken werden besser identifiziert 
  • Studienergebnisse sind stärker in den Erfahrungen der Betroffenen verankert 
  • Die Forschungsergebnisse werden mithilfe der Patient:innen und ihrer Community effizienter umgesetzt 

Mitsprache zum Nachhören

In unserem Podcast Gesundheitsrebell:innen kannst du nachhören, was Liesa Weiler-Wichtl über Mitsprache 2.0 zu sagen hat.

Der Vollständigkeit halber wollen wir aber auch einige Herausforderungen nennen, auf die Forschungsgruppen gestoßen sind. Diese haben häufig damit zu tun, dass Forschende gezwungen werden, in neuen Bahnen zu denken.  

Zum Beispiel: Ihre traditionelle Kontrolle über Forschungsfragen kann durch Nutzer:innenbeteiligung in Frage gestellt werden, was zu Spannungen führen kann. Die verstärkte Berücksichtigung der Bedürfnisse von Patient:innen kann manchmal zu Abweichungen von bewährten wissenschaftlichen Methoden führen.

Und es kann zu ethischen Herausforderungen kommen – bei zwei der untersuchten Studien musste etwa auf Placebo-Kontrollgruppen verzichtet werden, was die Robustheit der Daten beeinträchtigte.  

Lasset uns co-kreieren!

So oder so: Die Aufzählung der Vorteile überwiegt, und auch neuere Studien haben die Vorteile von mehr Mitsprache vielfach belegt.  

Hände zur Faust geballt bilden einen Kreis
Co-Kreieren: Das Zauberwort, das noch nicht überall die Runde gemacht hat. (Foto: Pexels/Diva Plavalaguna)

International hat der Forschungszug den Bahnhof schon längst in Richtung „Co-Kreation“ verlassen. Zusammenarbeit also. Die Frage, die sich stellt: Wird der Zug auch in Österreich und Deutschland Zwischenhalt machen? Ein EU-Gesetz scheint diese Frage zu bejahen: Die Verordnung (EU) 536/2014 über klinische Prüfungen legt fest, dass bei der Bewertung von Anträgen auf klinische Prüfungen auch Laien, insbesondere Patient:innen oder Patient:innenorganisationen, einbezogen werden sollten.   

Klingt doch toll, oder? 

Nur: Wer genauer hinsieht, stellt schnell fest: Verbindlich ist hier wenig. „Bei der Auswahl der geeigneten Stelle(n) sollten die Mitgliedstaaten darauf achten, dass auch Laien einbezogen werden, insbesondere Patienten oder Patientenorganisationen“, steht da in Punkt 18. Sollten 

Ob und wie Betroffene in die Forschung und Entwicklung ihrer Therapien eingebunden werden, bleibt damit weitgehend den einzelnen EU-Staaten überlassen, und unterscheidet sich entsprechend von Land zu Land 

Zurück in die Zukunft 

Und deshalb ist es so wichtig, dass es Forscher:innen wie Liesa Weiler-Wichtl gibt, die das Thema „Einbindung“ vorantreiben und Lösungen entwickeln, die Co-Kreation auf Augenhöhe ermöglichen. Doch fragen wir sie zum Abschluss selbst: Liesa – was braucht es, damit auch Österreich auf den Co-Kreations-Zug aufspringen kann, und nicht auf dem Forschungs-Abstellgleis landet? 

„Einerseits braucht es ein anderes Mindset bei den Forschungsteams – weg von ‚Fragen wir mal schnell die Patient:innen‘, hin zu: ‚Wir sind in einem gemeinsamen co-kreativen Prozess‘“, nimmt sie ihre Forschnungskolleg:innen in die Pflicht. Und auf der anderen Seite? „Wir brauchen konkrete Rahmenbedingungen. Es soll fest verankert sein, dass immer eine Vertretung von Patient:innenseite gegeben sein muss, wenn Forschungsprojekte entwickelt werden.“ 

Das können wir von Kurvenkratzer nur unterschreiben. 

Das hast du in diesem Artikel gelesen: 

  • Die Einbindung von Betroffenen in Forschungsprojekte hat viele Vorteile. 
  • Etliche Studien belegen das. 
  • Es gibt dank Liesa Weiler-Wichtl auch einen konkreten Leitfaden für mehr Partizipation. 
  • Trotzdem wird „Mitsprache“ in der Forschung und Entwicklung vor allem in Österreich noch klein geschrieben. 
  • Doch der Zug in Richtung Co-Kreation ist noch nicht abgefahren – dank Vorreiter:innen wie Liesa. 

Was fordert Kurvenkratzer? 

Patient:innen, Angehörige und Bürger:innen müssen bei Forschungs- und Entwicklungsprojekten frühestmöglich ernsthaft involviert werden – bereits ab dem Studiendesign und der Formulierung der Forschungsfragen. Dafür braucht es verbindliche, gesetzliche Regeln für den Forschungsbereich.

Für die konkrete Umsetzung gibt es Konzepte für Patient and Public Involvement and Engagement (PPIE), die bereits mit Erfolg in der Praxis erprobt wurden – etwa jenes von Liesa Weiler-Wichtl. Diese müssen bei künftigen Forschungsprojekten angewandt und umgesetzt werden.  

Quellen und Links: 

Titelbild: Pexels/Engin Akyurt

Über die Serie

Stell dir vor, du hast kein Wahlrecht. Du lebst zwar in einem modernen Staat, doch es gibt niemanden, der oder die deine Interessen vertritt. Sobald du bei Entscheidungen mitreden willst, heißt es: Sorry, das geht nicht. Du bist ja kein:e Expert:in. So ähnlich könnte man den aktuellen Zustand der Patient:innenvertretung beschreiben. Okay, das Gesundheitssystem ist natürlich keine Diktatur. Tatsache ist aber, dass Patient:innen in vielen Ländern bei wesentlichen Entscheidungen kaum mitbestimmen können. Genau darum geht es in “Mit uns statt über uns”. In unserer Serie machen wir erfahrbar, warum es dringend mehr anerkannte, professionelle Patient:innenvertretungen braucht. Wir greifen das Thema in aller Tiefe auf. Zeigen Beispiele, blicken in andere Länder, entlarven die Einwände, sprechen über Vorteile und schlagen vor, wie ein Paradigmenwechsel funktionieren könnte.

Mit  dieser Serie verbinden wir zwei Leidenschaften. Wir sind ein Magazin, arbeiten journalistisch und fühlen uns ausgewogener Berichterstattung verpflichtet. Wir sind aber auch Teil von euch, unserer Patient:innencommunity, und wollen mehr Mitsprache. Wir nehmen uns nichts Geringeres vor, als beides zu erreichen.

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