Kernfrage Männlichkeit: Wie Enrico das Leben als Schule betrachtet
Enrico A. Kern hat schon einiges erlebt. Das Kapitel Prostatakrebs war jedoch eine unerwartete Wendung, die ihn dazu zwang, sich und seine Existenz neu zu definieren. Wir haben ihn gefragt, welche Lebensweisheiten er daraus schöpft.
Was tun, wenn das Leben dir pünktlich zum Jahresstart eine Hiobsbotschaft in der Ärzt:innenpraxis serviert? Enrico, der sich selbst als bunter Hund mit grauen Haaren bezeichnet, bekam genau das: Prostatakrebs. Doch statt sich unterkriegen zu lassen, sah er darin einen dringenden Weckruf.
Nach Jahrzehnten voller beruflicher Abenteuer – vom Restaurantfachmann übers Psychologie-Studium bis hin zum Magazin-Herausgeber – lernt Enrico, dass das Leben nicht immer nach Plan verläuft.
Zusammen mit seiner Frau Uta verließ er das geschäftige Düsseldorf und zog ins ruhige sächsische Radeberg. Hier zeigt er tagtäglich, dass echte Männlichkeit nicht darin liegt, alles allein durchzustehen, sondern im Mut, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen und daran zu wachsen. Wie er das macht, erzählt er im Kurvenkratzer-Interview.
Wie bist du mit deiner Krebsdiagnose umgegangen?
In Sachen ärztliche Vorsorge war ich tatsächlich eher nachlässig. Einem „Sunnyboy“ wie mir passiert doch nichts, dachte ich. Schließlich sind die meisten Sorgen doch übertrieben. Ich hatte kaum Beschwerden, nur die üblichen Wehwehchen, die man mit fast 60 eben hat.
Aber so ein Rundumcheck sollte ab und zu mal gemacht werden. Dabei fiel mein PSA-Wert erhöht aus, also machte ich mir einen Termin beim nächstgelegenen Urologen.
Nach genaueren Untersuchungen, Ultraschall und einer schmerzhaften Biopsie im Dezember kam dann der Schock im neuen Jahr: Krebs im hohen Risikostadium. Erfahren habe ich die Diagnose direkt vom Urologen in seiner Praxis am 3. Jänner 2019. Das war erst einmal ein Schock, zudem mir der Urologe wenig einfühlsam gleich einen Haufen an Prospekten über Operation, Chemo und Bestrahlung überreichte.
Mich plagten die Gedanken: Wie sag ich das meiner Frau und meiner Familie? Nach dem ersten Schock begann ich, vernünftig zu recherchieren. Die Methoden sind vielseitig, und die Ärzt:innen rieten mir zu unterschiedlichen Therapien. Auf Empfehlung meiner Hausärztin bewarb ich mich schließlich in der Uniklinik Dresden für eine Protonentherapie-Studie.
Diese funktionierte gut, fühlte sich zunächst wie ein innerer Sonnenbrand an, aber die Krebszellen wurden zerstört, und die Nebenwirkungen waren gering. Das lief etwa vier Jahre lang gut.
Dann stieg der PSA-Wert wieder an, und eine PET-CT (Positronen-Emissions-Tomographie und Computertomographie), eine Untersuchung, die aktive Krebszellen sichtbar macht und gleichzeitig genaue Aufnahmen von Knochen und Organen liefert, zeigte Metastasen in Knochen und Organen.
Ich entschied mich für eine Orchiektomie, also eine operative Entfernung der Hormondrüsen im Hoden. Und das versuche ich heute noch zu verarbeiten. Als „Mann“ bist du dann eher auf Schmalspur.
Die kurze OP war wenig schmerzhaft, aber radikal. Mein PSA-Wert sank auf 0,001 und ich kämpfe nun mit den Nebenwirkungen – ähnlich wie bei den Wechseljahren bei Frauen: Hitzewallungen, Energieverlust, Stimmungsschwankungen, Muskelschwund. Vor allem nachts wache ich mehrmals auf, schwitze und liege wach.
Zum Glück steht im September eine Reha-Kur an, die mir Zeit und Ruhe geben wird, an mir zu arbeiten.
Wir hören immer wieder, dass es für Betroffene und ihr Umfeld schwierig ist, über Prostatakrebs zu sprechen. Wie hast du das erlebt?
Nun, jede Krankheit – besonders Krebs – fordert eine Änderung im Verhalten, im Leben im Alltag, sonst wäre es ja keine Krankheit. Natürlich ist das bei jedem Mann anders, aber Symptome zeigen sich meist schon vorher: Schwierigkeiten beim Wasserlassen, Druck oder Schmerz beim Sitzen und ja, auch bei der Erektion bzw. der Libido.
Über Prostatakrebs zu sprechen, ist nicht einfach, weder für Betroffene noch für ihr Umfeld. Nach dem ersten Schock und der allgemeinen Aufregung musste ich einiges ändern. Manche Dinge gehen eben nicht mehr oder nicht mehr so schnell. Das muss jede:r für sich selbst herausfinden. Im Leben gibt es immer wieder neue Umstände, und Veränderung gehört dazu.
Es ist sehr individuell, wie man(n) damit umgeht. Ich habe in meinen über 60 Jahren schon so ziemlich alles gelebt und erlebt und bin mittlerweile ruhiger. Sexualität und Intimität beschränken sich ja nicht nur auf den “Akt”, sondern können vielmehr auf Schmusen, Kuscheln, Liebkosen und Zweisamkeit ausgedehnt werden.
Was hat dich durchhalten und weitermachen lassen?
Ich betrachte das Leben als Schule: Alles, was uns passiert, hat einen Sinn, einen Grund, einen Zweck. Jedes Problem ist ein Geschenk, um uns herauszufordern und unsere Kräfte zu mobilisieren. In jedem Problem oder jeder Krankheit steckt auch verborgene Information, die uns am Ende stärker machen kann, wenn wir sie lösen. Heilen bedeutet, wieder ganz zu werden.
Ich bin unheimlich dankbar für alle Helfer:innen, von Pflegekräften bis zu Psychoonkolog:innen, die alles geben, um wirklich zu helfen. Man(n) sollte alles tun, was einem möglich ist, und den Rest getrost dem Allerhöchsten überlassen.
Quellen und Links:
- Auf seinem Facebookprofil teilt Enrico regelmäßig Einblicke aus seinem Leben.
- Im Uniklinikum Dresden nahm Enrico eine Protonen-Therapie in Anspruch.
Titelbild: Pexels/vlad-fonsark
Über die Serie
Jeder Mensch hat zwei Leben. Das zweite beginnt dann, wenn du realisierst, dass du nur ein Leben hast, und die Welt sich anders anfühlt. Durch den massiven Eingriff von Krebs & Co findet ein Sinneswandel statt. Falls dein Lebensweg bisher an Sinn vermissen ließ, wird das im Angesicht der Endlichkeit furchtbar klar.
Die Sinneswandel-Serie beschäftigt mit der Vielfalt an Bewältigungsstrategien, die Krebspatient:innen entwickeln, um mit all den weitreichenden Veränderungen umzugehen. Coping ist eine Kunst, und Kunst sensibilisiert die Sinne. Durch unsere Community wissen wir: Manche haben besonders kreative und authentische Ansätze gefunden. Sie haben inspirierende Geschichten gelebt, Prüfungen bestanden, schwere Entscheidungen getroffen – und wir entnehmen die Essenz dieser Lebenswege und gießen sie in tieftauchende Porträts.