Krebsbombe im Geldbeutel: Armutsfalle exposed
Das Gesundheitswesen realisiert, dass viele Patient:innen mit langem Krankheitsverlauf armutsgefährdet sind und will herausfinden, warum das so ist und was im System falsch läuft. Nach nächtelanger Recherche trifft es auf den Sozialarbeiter Jürgen Walther und den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Krebshilfe, Gerd Nettekoven.
Wer weist den Weg zu den Infos?
“Jürgen, die große Frage zuerst: Wie sollen krebs- oder chronisch kranke Patient:innen in ihrem Schockzustand bitte an die finanziellen Folgen denken? Sollten nicht andere dieses Thema ansprechen, damit der:die Patient:in entlastet wird?”
“Ich denke, es ist wichtig, dass man die psychosozialen Belastungen, die mit einer Erkrankung einhergehen, nicht unter den Tisch kehrt. Da sollte der:die Ärzt:in den Anstoß geben, denn von den Betroffenen kann man das gar nicht verlangen. Generell bräuchte es aber ein ganzes Unterstützungssystem, das diese Dinge für die Patient:innen mitdenkt und die Menschen so führt, dass sie sich in dem Dschungel zurechtfinden. Es gibt dahingehend ja die Onkolotsen-Idee oder beispielsweise die Breast Cancer Nurse.“
“Ja. Wir machen hier in Heidelberg ein Bedarfsscreening, indem wir die Patient:innen über ein Tablet abfragen. Dabei geht es um familiäre, finanzielle, emotionale und arbeitsbezogene Belastungen. Man kann auch konkret Wünsche äußern: Ich hätte gerne eine Beratung zu Rehabilitation, Schwerbehinderung, etc. Das Ergebnis wird automatisch ermittelt, das bekommen wir auf den Tisch und können so den:die Patient:in individuell beraten. Im Grunde machen das alle zertifizierten Tumorzentren, nur gehen wir in Heidelberg noch mehr auf psychosoziale Bedarfe ein.”
Die Idee ist einwandfrei. So wäre den Patient:innen konstruktiv unter die Arme gegriffen. Ich notiere: umfangreiches Bedarfsscreening für alle! Dann weiß man auch, wonach man suchen muss.
Wieso der bürokratische Druck?
“Okay, okay. Also, jetzt hätte ich eine prickelnde Frage an dich. Ich habe viele Erfahrungsberichte von Patient:innen gelesen, die noch während der Akuttherapie von der Krankenkasse Aufforderungen zur Rehabilitation bekommen haben, die sie in einer bestimmten Frist beantworten müssen. Was soll das?”
“Diese Aufforderung zur medizinischen Rehabilitation macht sehr wenig Sinn und ist aus onkologischer Sicht durchaus unangebracht.”
Ich setze einen drauf: “Generell ist der bürokratische Aufwand während dieser Phase total belastend. Das hilft ja nicht gerade beim Gesundwerden, oder?”
“Richtig. Dieses Verfahren ist veraltet. Letztendlich geht es nur darum, ob jemand in der Zuständigkeit der Krankenkasse oder der Rentenversicherung liegt. Damit sich die Krankenkasse eventuell Erstattungsansprüche gegenüber der Rentenversicherung sichert. Inhaltlich ist das für die Betroffenen überhaupt nicht von Nutzen und führt letztendlich nur zu Arbeit, auf allen Seiten.”
Gemeinsam regen wir uns über dieses unnütze Verfahren auf. Wie zwei alte Männer darüber, dass früher alles besser war – mit dem Unterschied, dass wir im Herzen jung sind und alles besser sein könnte. Man würde ja meinen, dass durch den Fortschritt der Digitalisierung die bürokratischen Hürden abgebaut werden. Aber es scheint, als würden die politischen Mühlen nur sehr langsam mahlen.
Das Krankengeld reicht nicht aus!
“Was mir außerdem aufgefallen ist: Wenn man Krankengeld und Entgeltfortzahlung zusammennimmt, hat man in Österreich wie in Deutschland 78 Wochen sicheres Sozialgeld. Das entspricht aber vielen Krankheitsverläufen nicht, die weit über diesen Zeitrahmen hinausgehen.”
“Krankengeld in seiner heutigen Ausprägung hängt noch mit dem früheren Paradigma zusammen, als akute Krankheiten bestimmend waren. Aber schon seit Jahren sind eigentlich die chronischen Krankheitsbilder die beherrschenden. Der Leistungsbezug sollte verlängert werden, da die Akutbehandlung von Brustkrebs gut zwei Jahre dauern kann.”
“Könnte man nicht noch weitergehen und hinterfragen, ob das derzeitige System überhaupt noch Sinn macht?”
Die große Rettung?
“Wenn wir schon bei jungen Menschen sind: Es scheint, als wäre die Berufsunfähigkeitsversicherung der Heilsbringer für jene, die noch nicht viel in ihre Rente eingezahlt haben.”
“Gerade für Jüngere ist die private Berufsunfähigkeitsversicherung eine ganz zentrale und wichtige Versicherung. Aber der Fakt, dass es nur die Absicherung des Risikos ist, lässt viele Menschen zurückschrecken. Das Geld muss man ja erstmal haben. Aber für den Fall, dass du eine Krebserkrankung erleidest, oder einen Schlaganfall, rettet dich das finanziell. Das ist profund.”
“Erstmal sei gesagt, dass man so eine Versicherung nur abschließen kann, wenn man gesund ist. Außerdem ist sie günstiger, wenn man jung bist. Über vierzig kann man sich das kaum mehr leisten. Und falls man nicht krank wird, ist das Geld quasi verloren.”
“Im Endeffekt muss man Wahrscheinlichkeiten berechnen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass du an Krebs erkrankst oder vom Pferd fällst? Ein gesunder junger Mensch sollte es sich also zumindest mal durch den Kopf gehen lassen. Ob er das Geld hat und ob er sie brauchen wird”.
Was macht die Politik?
Als ich die Universitätsklinik Heidelberg verlasse, ist es längst dunkel und mir brummt der Schädel wie nach einer Achterbahnfahrt, die man spätestens ab der Hälfte gar nicht mehr so lustig findet. Mehr Fragen als Antworten, viel zu verarbeiten, flüstere ich in mich rein, als ein Mann an mir vorbeihuscht, dessen Gesicht mir furchtbar bekannt vorkommt.
“Herr Nettekoven?”
Er dreht sich um. Wusst ich’s doch. Das ist der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krebshilfe.
“Was machen Sie hier?”
“Ich bin in dem Fachausschuss ‘Versorgung’ mit Herrn Walther. Wir befassen uns gerade mit der Armutsproblematik im Zusammenhang mit chronischen Krankheiten.”
“Ach, was für ein Zufall. Das heißt, die Thematik wird politisch tatsächlich aufgegriffen?”
Er zögert bei der Antwort. “Es gibt leider keine Evidenz. Ohne eindeutige Datenlage ist es schwer, die politischen Ämter zu überzeugen, dass hier umstrukturiert werden muss. Wir versuchen derzeit, ein Forschungsprogramm auf die Beine zu stellen – mit gezielten Fragestellungen, um mit diesen Erkenntnissen dann an die Politik heranzutreten und etwas zu bewirken.”
Ich seufze. Wie oft ich schon gehört habe, wie langsam die politischen Mühlen sind.
“Für solche Themen braucht man einen unglaublich langen Atem – es ist uns bewusst, dass das viel zu lange dauert. Mit Geschwätz allein kommen wir da nicht weiter.”
Ja, genau! Dinge selbst in die Hand nehmen. Ich höre mir schon seit ein paar Wochen Expert:innen an, aber bald wird es auch für mich Zeit, aktiv zu werden. Das Tolle ist: Ich merke, dass ich nicht allein bin – nicht der Einzige, der will, dass die Probleme erkannt werden und an einem Strang gezogen wird.
“Na gut. Entschuldigen Sie mich, ich muss weiter”. Herr Nettekoven hastet Richtung Eingang, während auch ich mich gedankenverloren umdrehe. Plötzlich halte ich inne, drehe mich nochmal um und rufe ihm nach:
“Wissen Sie, wer ich bin?”
Während er die Tür öffnet, lächelt er mir entgegen.
“Klar! Du bist das Gesundheitswesen.”
Wärme macht sich in meinem Bauch breit. Endlich jemand, der mich wiedererkennt.
Das Gesundheitswesen ist back?!
Dieser Moment, liebes Tagebuch, fühlt sich wie ein Startschuss an. Als ob mir das Leben sagen will, dass es langsam Zeit wird, sich wieder einzugliedern. Zeit, meine Rehabilitation aktiv anzugehen! Zeit, mitzutanzen und das System neu zu denken! Für Nhomsai, Regina, und alle anderen, die bisher unter meiner Ignoranz gelitten haben! Aber vorher muss ich noch schauen, dass sich der Bonsai mit Kurt dem Kaktus verträgt.
Weiterführende Links:
- Armut & Krebs: Zeit den Teufelskreis zu durchbrechen (Ärztezeitung)
- Krebs ist ein Armutsrisiko (Krebshilfe)
- Podcast: Kann ich mir Krebs leisten (Café Krebs)
Die Produktion dieses Artikels wurde von DONAU Versicherung AG unterstützt, unter Wahrung der redaktionellen Unabhängigkeit.
Titelbild: Krebshilfe Deutschland, Universitätsklinikum Heidelberg. Illustration: Lena Kalinka
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Über die Serie
Stell dir vor, das Gesundheitswesen ist ein echtes Wesen. Es atmet, isst, trinkt, verdaut, fühlt. Und wenn es lange überlastet ist, funktioniert es nicht mehr wie sonst. In dieser Serie passiert genau das: Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und muss eine Auszeit nehmen. „Den Auslösern auf den Grund gehen“, wie die Psychologin sagt.
In 20 Tagebucheinträgen beschäftigt es sich mit sich selbst – und deckt nach und nach Probleme, Erfolge und Möglichkeiten auf. Dazu spricht das Gesundheitswesen mit allerlei Fachleuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz übers Bettenfahrern, die Pflegekrise oder Themen wie Föderalismus und Digitalisierung. Am Ende entsteht ein Gesamtbild der aktuellen Herausforderungen im System.