Game Changer fürs Gesundheitssystem
Kann Krebs auch gute Folgen haben? Im letzten Teil der Serie „3 mal 3 Patient Advocates“ erzählt Jan Geißler, wie ihn die Diagnose chronische myeloische Leukämie dazu gebracht hat, das Gesundheitssystem zu verändern – mit Effekt für viele andere Patient:innen.
28 ist kein Alter, um einer Krebserkrankung ins Auge zu sehen. Dennoch ist das kein Einzelfall, wie du als Leser:in des Kurvenkratzer-Magazins sicherlich ahnst. Jan Geißler erwischt die Diagnose chronische myeloische Leukämie (CML) 2001, nur zwei Jahre nach Ende seines Studiums, ziemlich kalt. „Die damals üblichen Therapieoptionen sahen nicht vielversprechend aus“, erzählt der frühere Projektmanager im Telekom-Business. „Ich war nicht sicher, den 30. Geburtstag noch zu erleben.“
Die chronische myeloische Leukämie (CML) ist eine Blutkrebsart. Bei dieser bösartigen Erkrankung des Knochenmarks bilden sich zu viele weiße Blutkörperchen. Sie zählt zu den myeloproliferativen Neoplasien (MPN). Mit heutigen Medikamenten ist für Erkrankte meist ein normaler Alltag möglich bei guter Lebensqualität.
Nach intensiver Internet-Recherche findet Jan Geißler eine klinische Studie mit zwei experimentellen Medikamenten. „Die sind vermutlich der Grund, warum ich heute noch da bin.“ Mit seinen guten Englischkenntnissen gelangt er an Patient Advocates, die in Yahoo-Gruppen über Neuigkeiten aus der Forschung berichten – seine Initialzündung, selbst Patient Advocate zu werden.
Heute ist Jan Geißler Patient Advocate und Social Entrepreneur, sowie CEO von Patvocates und Geschäftsführer von EUPATI Deutschland. Er gründet einige weitere Patient:innenorganisationen mit, die Betroffene über aktuelle Forschungen informieren und die sich mit Patient:innenbeteiligung im Studiendesign sowie den politischen Rahmenbedingungen für Forschung auseinandersetzen.
Was ist das dringendste Thema in deiner Arbeit als Patient Advocate?
„Patient:innenpartizipation sowie Zusammenarbeit aller Akteure. Bei allem Enthusiasmus habe ich schon früh gemerkt, dass der ,Patient im Mittelpunkt‘ eine modische Behauptung ist, aber von vielen Akteuren so empfunden wird, dass gut informierte und aktive Patient:innen in der Mitte eher jedem in seinen Eigeninteressen im Weg stehen. Das zu ändern, also den Mehrwert der Patient:innenbeteiligung im Forschungsdesign, der Studiendurchführung und in politischen Diskussionen zu vermitteln, und dabei Methoden, Werkzeuge, Prozesse und Beispiele zu entwickeln, wie dies in praktischer Umsetzung zu zielgerichteterer, schnellerer, sicherer, relevanterer Forschung führt, das treibt mich an. Und hält mich noch für Jahre beschäftigt, denn der Worte gibt es viele, bei den Taten gibt es aber noch viel Freiraum.“
Welches Erlebnis in deiner Zeit als Patient Advocate bewegt dich seither am meisten?
„Dass sich der Aktivismus Einzelner durch Kompetenzbildung und Training, solide Methoden und Prozesse der Patientenbeteiligung und viel Kulturwandel mittlerweile durch gemeinsame Arbeit der Patient:innen-Community in eine Bewegung gewandelt hat. Ich meine das nicht emanzipatorisch – es geht uns hier nicht um Macht oder Geld, sondern darum, dass in Zukunft weniger Patient:innen an schwerwiegenden Erkrankungen leiden oder sterben müssen, weil die Patient:innen alle Akteure zusammenbringen und ihnen helfen, sich auf reale Patient:innenbedürfnisse auszurichten.“
„Und eines der bewegendsten Elemente war dabei WECAN, die Workgroup of European Cancer Patient Advocacy Networks – ein informeller Verbund der 23 paneuropäischen Krebspatientenorganisationen, den wir 2015 ins Leben gerufen haben. Was wir in diesem Netzwerk in Bezug auf Training, evidenzbasierte Patient Advocacy und Projektzusammenarbeit mit nur wenigen Ressourcen als Community gemeinsam auf die Beine stellen, beeindruckt mich sehr. Das ist das Ergebnis von mehr als zehn Jahren vertrauensvollem Wachstum einer Community statt der Außergewöhnlichkeit Einzelner.“
In welche Richtung sollte Patient Advocacy in naher Zukunft am besten gehen?
„Training, Training, Training, und Koordination über Indikations- und Landesgrenzen hinweg. Wir brauchen ganz viele Advocates, die gut trainiert sind und wissen, worüber sie reden, was sie fordern, und die mit der Evidenz aus ihrer eigenen Gemeinschaft argumentieren, was für Patient:innen wirklich zählt. Training und Evidence-Based Advocacy sind sicherlich die Themen, die uns in Zukunft weiterhin sehr stark bewegen und ein ,Game Changer‘ sind.“
Und, was ist mit deiner Stimme?
Von Krebs betroffenen Menschen hilft es, wenn andere über ihre Krebserkrankung sprechen. Das gibt ihnen das Gefühl, nicht allein zu sein. Trage auch du dazu bei, Krebs in der Gesellschaft zu enttabuisieren. Lass uns deine Stimme hören.
Wir sprechen über Krebs. Gemeinsam. Laut.
Quellen und Links:
- Vita Jan Geissler (Patvocates)
- European Patients’ Academy on Therapeutic Innovation (EUPATI)
- Workgroup of European Cancer Patient Advocacy Networks
- European Patient Advocacy Institute
- Leukämie-Online
- Chronische myeloische Leukämie (Kompetenznetz Leukämien), abgerufen am 15.09.2022
Zum Weiterlesen:
- Patient Advocacy kurz erklärt (Kurvenkratzer-Lexikon)
- Cancer Awareness Days: Bewusstseinsbildung für Krebs
Titelfoto: MLL Münchner Leukämielabor