Wie besiegst du erblichen Krebs, Tamara?
Wenn jemand mit Leidenschaft gegen erblichen Krebs vorgeht, dann ist es Tamara. Seit 2011 leitet sie die Patient:innenorganisation EVITA in Portugal und trägt das Bewusstsein in die Öffentlichkeit. Wie sie das macht, erfährst du hier.
Wenn man Tamara Hussong Milagre mit einem Wort beschreiben müsste, dann wäre es „spontan“. So vielfältig wie ihr Charakter ist auch ihr beruflicher Werdegang: Nach einer Ausbildung zur Krankenschwester in Deutschland beginnt sie ein Architekturstudium, das von einem Auslandssemester in Barcelona und einer unvergesslichen Exkursion nach Lissabon gekrönt wird.
In die portugiesische Metropole verliebt sie sich unsterblich und beschließt, dort ihr Leben aufzubauen. „Völlig verrückt“, wie sie selbst sagt.
Seit 1997 ist Portugal nun Tamaras Heimat, und sie hat diesen Entschluss keinen Tag bereut. Schließlich lernt sie dort auch ihren Mann kennen und bringt zwei Kinder auf die Welt. Ihre Spontanität und ihr Motto, das Glas immer als halb voll zu betrachten, prägen auch ihren Kampf gegen erblichen Krebs. Den sieht Tamara nämlich als eine durchaus lösbare Herausforderung – vorausgesetzt, die Politik würde endlich handeln, aber dazu später mehr.
Über die Serie
Wie setzen Patient Advocates sich für die Belange von Patient:innen ein? Im Rahmen unserer Serie „Mit uns statt über uns“ interviewen wir jeden Monat Patient:innenenvertreter:innen aus aller Welt über ihre Arbeit für Betroffene, ihren Einsatz für mehr Mitsprache – und darüber, was sie täglich anspornt, weiterzumachen.
Ihre Mission beginnt durch einen einschneidenden Vorfall während ihrer Zeit als Krankenschwester: Eine junge Frau unterzog sich einer radikalen Mastektomie wegen fortgeschrittenem triple-negativem Brustkrebs. Sie hatte schon früh ihre Tanten an Brustkrebs verloren und erkennt die Symptome während ihrer Schwangerschaft.
Als die junge Frau von ihrem Arzt belächelt und abgewiesen wird – und letztendlich ihr Leben verliert –, weckt das in Tamara die Motivation, aktiv zu werden.
Nachdem sie schließlich selbst zahlreiche Krebsfälle in der Familie miterlebte, sucht Tamara auch selbst genetische Beratung auf. Denn ihre Vermutung ist das Vorkommen des BRCA-Gens in ihrer Familien-DNA. Der Gentest bestätigt ihre Befürchtung und sie weiß, dass sie handeln muss.
Warum bist du Patient:innenvertreterin geworden?
Stell dir vor, du lebst mit einem Damoklesschwert über dem Kopf, aber du bist kerngesund. Da kannst du nicht wirklich zu einer Brustkrebsvereinigung gehen.
Ich musste einen Auffangpunkt für die Menschen schaffen, die unter hohem Risiko stehen und tausende Entscheidungen treffen müssen. Diese Erkenntnis wurde verstärkt, als Tamara von einer Ärztin zu einer Konferenz in die USA geschickt wurde.
Ich saß da in der Eröffnungszeremonie und die Direktorin des Vereins FORCE hat ein bisschen erzählt, was sie so alles durchmachen musste. Da habe ich gemerkt, dass der ganze Tisch nass war. Mir sind Tränen als Fluss heruntergeronnen.
Eine Frau kam dann auf mich zu, gab mir einen Kuss auf die Stirn und sagte: “Du bist nicht mehr alleine.“ In dem Moment ist mir der Stein vom Herzen gefallen und ich hatte eine Erleuchtung: Ich gründe meine eigene Patient:innenorganisation, um genau dieses Gefühl auch anderen weiterzugeben.
Wie änderst du das System?
2015 gelang es mir, führende Wissenschaftler:innen, die zu erblichem Eierstock- und Brustkrebs forschen, nach Lissabon zu bringen. Zusammen starteten wir den „BRCA Network International Congress“ und brachten endlich alle relevanten Akteur:innen an einen Tisch.
Zum ersten Mal ist erblicher Krebs fester Bestandteil des europäischen Krebsplans und auch das nationale Krebsprogramm widmet sich diesem Thema nun endlich! Unser Motto ist es, hartnäckig zu sein, überall aufzutauchen, niemals aufzugeben und die Dinge beim Namen zu nennen.
Lange waren die Daten zu erblichem Krebs mangelhaft. Wir haben keine Daten. Unser nationales Krebsregister differenziert überhaupt nicht zwischen sporadischem und erblichem Krebs. Seit sechs Jahren arbeiten wir an einer Plattform, die Patient:innenzentrum, -beratung, -information und -verzeichnis vereint.
Mit unserer EVITA Platform schaffen wir eine Basis für Bürger:innen, um sich über ihr Risiko zu informieren, Genträger:innen zu unterstützen, eigene klinische Prozesse zu zentralisieren, Forschung zu betreiben, genetische und psychologische Beratung in Anspruch zu nehmen und vieles mehr.
Welche Rolle spielt Patient Advocacy in deinem Land?
In Portugal gibt es keinen Pfennig für Patient:innenorganisationen, aber das ändert sich langsam. EVITA ist eine der ersten Anlaufstellen für Patient Advocacy in der Onkologie. Wir arbeiten eng mit Universitäten zusammen, was unsere Forschungsarbeit vorantreibt. Und die Anerkennung unserer Arbeit ist sehr groß.
Das Konzept der Patient:innenzentrierung ist inzwischen ein festes Thema auf Kongressen, obwohl es in der Praxis immer noch Herausforderungen gibt. Ich würde sagen, dass wir gerade in einer Transitionsphase sind. Ich bin optimistisch, dass wir bald auch finanzielle Unterstützung von Seiten der Regierung erhalten werden. Man kann schließlich kein Omelett ohne Eier backen.
Stell dir vor: Du hast deine Ziele erreicht! Wie sieht die Welt jetzt aus?
Ich träume von einer Welt, in der erblicher Krebs der Vergangenheit angehört. Wir haben die Möglichkeit als Genträger:innen, die Genmutation in der nächsten Generation auszuschließen und Mutationen nicht weiterzugeben. Wir könnten erblichen Krebs in der nächsten Generation aus unserem genetischen Code eliminieren und ihm die rote Karte zeigen.
Es besteht eine reelle Möglichkeit, den erblichen Krebs zu besiegen. Das ist eigentlich ein No-Brainer. Aber die Entscheidungsträger:innen schlafen wie gesagt noch den Dornröschenschlaf. Es ist an uns, sie wachzurütteln. Es gelingt uns langsam, aber sicher.
Quellen und Links:
- Im Kurvenkratzer Lexikon kannst du nachlesen, was Patient Advocacy ist.
- Tamara leistet mit ihrer Organisation EVITA einen großen Beitrag zur Bekämpfung von erblichem Krebs.
- Auf der Evita-Plattform kannst du dich registrieren und selbst zur Bekämpfung von erblichem Krebs beitragen.
Titelbild: Tamara Hussong Milagre
Über die Serie
Stell dir vor, du hast kein Wahlrecht. Du lebst zwar in einem modernen Staat, doch es gibt niemanden, der oder die deine Interessen vertritt. Sobald du bei Entscheidungen mitreden willst, heißt es: Sorry, das geht nicht. Du bist ja kein:e Expert:in. So ähnlich könnte man den aktuellen Zustand der Patient:innenvertretung beschreiben. Okay, das Gesundheitssystem ist natürlich keine Diktatur. Tatsache ist aber, dass Patient:innen in vielen Ländern bei wesentlichen Entscheidungen kaum mitbestimmen können. Genau darum geht es in “Mit uns statt über uns”. In unserer Serie machen wir erfahrbar, warum es dringend mehr anerkannte, professionelle Patient:innenvertretungen braucht. Wir greifen das Thema in aller Tiefe auf. Zeigen Beispiele, blicken in andere Länder, entlarven die Einwände, sprechen über Vorteile und schlagen vor, wie ein Paradigmenwechsel funktionieren könnte.
Mit dieser Serie verbinden wir zwei Leidenschaften. Wir sind ein Magazin, arbeiten journalistisch und fühlen uns ausgewogener Berichterstattung verpflichtet. Wir sind aber auch Teil von euch, unserer Patient:innencommunity, und wollen mehr Mitsprache. Wir nehmen uns nichts Geringeres vor, als beides zu erreichen.