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Aufmerksamkeit für seltene Erkrankungen
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11 seltsame Dinge, die du über seltene Krankheiten wissen solltest

Schlechte Versorgung, wenig Forschung, kaum öffentliche Sichtbarkeit: Über seltene Erkrankungen weiß fast niemand Bescheid. Das wollen wir ändern und das kannst auch du, nachdem du diesen Artikel gelesen hast.

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Seltsame Fakten über seltene Krankheiten 

Fakt #1: Von wegen “selten” 

Allein in Europa leiden rund 30 Millionen Menschen an seltenen Erkrankungen. In Deutschland sind es vier Millionen, in Österreich gibt es rund eine halbe Million Betroffene.  

Jetzt fragst du dich vielleicht: Hä, warum heißen die dann so? Das liegt daran, dass Krankheiten nach ihrer relativen Häufigkeit definiert werden. Also: Wie viele Personen erkranken im Schnitt an einer bestimmten Krankheit? Bei manchen Leiden ist dieser Anteil relativ hoch – wie schon erwähnt etwa bei Diabetes (7,2 Prozent der Erwachsenen) oder Bluthochdruck (32,8 Prozent der erwachsenen Männer). Bei den einzelnen seltenen Erkrankungen ist dieser Wert sehr niedrig – hier liegt er bei höchstens 0,05 Prozent – das entspricht einer von 2.000 Personen.  

Soweit die Zahlen. An dieser Stelle ein kurzer Reminder: Hinter diesen Zahlen stecken Menschen. Und zwar viel mehr, als die Bezeichnung “selten” nahelegt.  

bunte Menschenmenge
30 Millionen Menschen leiden in Europa an seltenen Erkrankungen. All diese Menschen bekommen vom Gesundheitssystem nicht die Aufmerksamkeit, die ihnen zusteht. (Foto: Pexels/Chalta Phirta)

Fakt #2: Auch “seltener” Krebs ist nicht wirklich selten 

Wenn weniger als sechs von 100.000 Menschen pro Jahr an einer bestimmten Krebsform leiden, gilt diese als “selten”. Aufmerksame Leser:innen haben es bereits bemerkt: Die Definition einer seltenen Krebserkrankung ist also eine andere als die für andere “Rare Diseases” (siehe #1). 

Obwohl also noch “seltener”, betreffen diese Krebsarten ebenfalls viele Menschen: EU-weit leben geschätzt 5,1 Millionen Personen mit seltenen Krebserkrankungen. Das entspricht der Einwohner:innenzahl von Irland. In Deutschland sind jedes Jahr etwa 100.000 Menschen betroffen.   

Fakt #3: Weniger Forschung = mehr Tote 

Sieht man sich die Zahl seltener Krebserkrankungen (siehe #2) im Verhältnis zu “normalen” Krebsarten an, wird einem schwindlig: Es wird geschätzt, dass jedes fünfte Krebsleiden als “selten” einzustufen ist 

Diese seltenen Krebsformen teilen sich in viele einzelne Arten auf – die Schätzungen liegen zwischen 200 und 500. Und das ist auch das Problem, denn jede einzelne benötigt eigene Forschung, Expert:innen, Diagnosemethoden, Behandlungsansätze und so weiter. Die Folgen tragen die Betroffenen – ihre Fünf-Jahres-Überlebenschancen sind um knapp 15 Prozent geringer als bei anderen Krebsarten. 

Fakt #4: Es sind Kinderkrankheiten 

Aber nicht so, wie du jetzt vielleicht glaubst – es geht natürlich nicht um Röteln oder Masern. Vielmehr sind rund die Hälfte aller Menschen, die an seltenen Erkrankungen leiden, Kinder und Jugendliche. Das muss man sich erst mal auf der Zunge zergehen lassen – das Problem betrifft also grob geschätzt mehr als zwei Millionen junge Menschen allein in Deutschland.  

Und das ist natürlich besonders hart: Für die Kids, die aufgrund ihrer Leiden wichtige Lernerfahrungen nicht machen können, häufig nicht normal in die Schule gehen können und auch mal wegen ihrer Krankheit gemobbt werden.  

Plüschfigur Bär mit Verband
50 Prozent der seltenen Erkrankungen betreffen Kinder und Jugendliche. Durch die Erkrankung wird ihnen oft die Möglichkeit genommen, wichtige Lern- und Lebenserfahrungen zu sammeln. (Foto: Pexels/Pixabay)

Auch für ihre Familien stellt die Krankheit eine große Belastung dar – die Unsicherheit, die Kosten, die oft intensive Pflege, die nötig ist. All das bringt Eltern schon mal an den Rand ihrer Möglichkeiten. Übrigens sind fast drei Viertel aller seltenen Erkrankungen genetisch bedingt (siehe #9). 70 Prozent davon beginnen wiederum im Kindesalter. Wie gesagt – es ist ein Kinderding.  

Fakt #5: Kinderkrebs = seltene Erkrankung 

Das gilt für jede Krebsart, die bei Kindern auftritt. Das liegt daran, dass Kinder (zum Glück) relativ selten Krebs bekommen. In Österreich zum Beispiel liegt die Inzidenz, also die Zahl der Neuerkrankungen, bei unter einem Prozent aller Krebsfälle. 

Die Folge ist aber, dass es auch zu wenige Therapien speziell für diese Patient:innengruppe gibt. In der Erforschung und Entwicklung von Krebsmedikamenten wird in erster Linie an Erwachsene gedacht –  dafür gibt es ja auch einen größeren Markt. Therapien für Erwachsene sind aber nicht automatisch für Kinder geeignet.  

Im Gegenteil. Das fängt bei der Größe von Tabletten an, die Kinder nicht schlucken können, geht über die Dosierung bis hin zu Unverträglichkeiten aufgrund der anderen Anforderungen des kindlichen Körpers. 

Fakt #6: Vernetzung rettet Leben 

2017 rief die EU-Kommission sogenannte europäische Referenznetzwerke ins Leben (im Fachjargon nennt man sie einfach ERN’s). Darunter versteht man die grenzübergreifende Vernetzung von Ärzt:innen und Expert:innen für die jeweiligen seltenen Erkrankungen.  

Bei der Einführung dieses Systems wurden Netzwerke gespannt, die mehr als 900 hochspezialisierte Teams in 300 Krankenhäusern in 26 Ländern umfassen. Inzwischen wurde dieses Netzwerk erweitert.  

Du fragst dich jetzt vielleicht: Aber was haben Patient:innen davon? Ziemlich viel – zumindest theoretisch. Referenznetzwerke sollen sicherstellen, dass alle Erkrankten Zugang zur bestmöglichen Expertise auf dem Gebiet “ihres” Leidens erhalten – ohne dafür physisch zu den Expert:innen reisen zu müssen.  

Wie funktioniert die Behandlung über ein ERN (europäisches Referenznetzwerk)? 

Die einfachste Variante ist, dass Patient:innen direkt in einer der ERN-Kliniken betreut werden. Das ist aber oft nicht möglich. Dann werden die medizinischen Dokumente über eine gesicherte Online-Plattform an die jeweiligen Expert:innen übermittelt. Das erspart den Patient:innen die Reise, weil der oder die Expert:in vielleicht auf der anderen Seite des Kontinents lebt. Die Therapie kann dann (im Idealfall) ebenfalls nah am Wohnort stattfinden. Der oder die behandelnde Ärzt:in bleibt die einzige Kontaktstelle mit dem ERN-Team. Der Ansatz ist also vergleichbar mit Telemedizin. 

Fakt #7: Die Betroffenen sind (optimistische) Realist:innen 

Menschen, die an seltenen Krankheiten leiden, sind ziemlich hart im Nehmen. Das zeigt eine Umfrage, an der rund 4.000 Betroffene und Angehörige teilnahmen. Acht von zehn gaben an, nicht daran zu glauben, in den nächsten zehn Jahren geheilt zu werden 

Was sie aber hoffen (und auch fordern): Dass ihre Lebensqualität verbessert wird. Gut die Hälfte von ihnen glaubt, dass ihre Krankheit zumindest stabilisiert werden kann, 58 Prozent, dass sie mehr emotionale Unterstützung erhalten werden. Alles in allem kann man also sagen, dass Menschen mit seltenen Krankheiten auch Optimist:innen sind. 

Jetzt kommt das “Aber”: Nur 44 Prozent glauben, dass sie eine an ihre Bedürfnisse angepasste Arbeit finden werden. Und nur etwas mehr als ein Drittel der Befragten glaubte daran, künftig nicht mehr diskriminiert zu werden. Das spricht Bände über den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen.  

Wie viel Geld lassen Regierungen für den Kampf gegen “die Seltenen” springen? Erfahre es auf Seite 3.

Über die Serie

Stell dir vor, du hast kein Wahlrecht. Du lebst zwar in einem modernen Staat, doch es gibt niemanden, der oder die deine Interessen vertritt. Sobald du bei Entscheidungen mitreden willst, heißt es: Sorry, das geht nicht. Du bist ja kein:e Expert:in.

So ähnlich könnte man den aktuellen Zustand der Patient:innenvertretung beschreiben. Okay, das Gesundheitssystem ist natürlich keine Diktatur. Tatsache ist aber, dass Patient:innen in vielen Ländern bei wesentlichen Entscheidungen kaum mitbestimmen können.

Genau darum geht es in “Mit uns statt über uns”. In unserer Serie machen wir erfahrbar, warum es dringend mehr anerkannte, professionelle Patient:innenvertretungen braucht. Wir greifen das Thema in aller Tiefe auf. Zeigen Beispiele, blicken in andere Länder, entlarven die Einwände, sprechen über Vorteile und schlagen vor, wie ein Paradigmenwechsel funktionieren könnte.

Mit  dieser Serie verbinden wir zwei Leidenschaften. Wir sind ein Magazin, arbeiten journalistisch und fühlen uns ausgewogener Berichterstattung verpflichtet. Wir sind aber auch Teil von euch, unserer Patient:innencommunity, und wollen mehr Mitsprache. Wir nehmen uns nichts Geringeres vor, als beides zu erreichen.

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