Wie Darmkrebs, Scham und Ghosting zusammenhängen
Tabus, Ghosting, Scham? Können wir uns nicht leisten. Wir sprechen aus, was viele verdrängen – mit Community-Tipps und Klartext von Psychoonkologin Anja Mehnert-Theuerkauf.
Du willst wissen:
- Wieso Krebserfahrene so oft geghostet werden?
- Wie du Scham den Mittelfinger zeigst?
- Wie du mit deinen Freund:innen über Probleme sprichst?
Dann bist du hier richtig.
Wir Menschen haben die blöde Angewohnheit, uns zu schämen. Die Scham wird uns quasi in die Wiege gelegt und wächst über die Jahre zu einer mürrischen Begleiterin heran. Scham ist total menschlich und evolutionstheoretisch auch sinnvoll. Denn Scham soll uns davor schützen, durch soziale Abwertung benachteiligt zu werden. Also aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden.
Aber bei Themen wie Darmkrebs ist Scham einfach kontraproduktiv. Denn Krebs zapft ohnehin schon so viel Energie ab, die eigentlich an anderen Stellen benötigt wird.
Plötzlich dreht sich vieles im Alltag um Verdauung, um Toilettengänge, vielleicht um einen künstlichen Darmausgang (Stoma). Es geht um Gerüche, Geräusche, veränderte Körperbilder. Kurz: Um Dinge, die in unserer Gesellschaft gerne unter den Teppich gekehrt werden. Und genau deshalb fühlen sich viele Betroffene nicht nur krank, sondern auch unsichtbar – oder schlimmer noch: ausgeschlossen.
Denn wo Scham ist, ist Ghosting oft nicht weit entfernt. Freund:innen, Bekannte, manchmal sogar Partner:innen – sie alle verschwinden. Warum? Weil sie nicht wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Weil Krankheit Angst macht. Oder weil das Thema „zu unangenehm“ ist.
Heute lassen wir metaphorisch die Hosen runter und sprechen über alles, was sonst verschwiegen wird. Mit Klartext, mit einer guten Portion Wut auf überholte Tabus – und mit der Expertise von Psychoonkologin Anja Mehnert-Theuerkauf.
Das Kurvenkratzer-Magazin dankt Anja Mehnert-Theuerkauf für das Interview.
Auf dem Gebiet der Psychoonkologie ist Prof. Dr. Anja Mehnert-Theuerkauf die Expertin schlechthin. Sie ist Professorin für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, unter anderem Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psychologie, Vorstandsvorsitzende bei der Deutschen Krebsstiftung und Empfängerin zahlreicher Preise und Auszeichnungen auf ihrem Gebiet.
Scham & Stigma: Warum ist Darmkrebs so ein Tabuthema?
Krebs ist Krebs, oder? Nicht ganz. Während über Brustkrebs oder Leukämie mittlerweile offener gesprochen wird, bleibt Darmkrebs für viele ein peinliches Flüsterthema. Warum?
- Weil Darmkrebs mit Dingen zu tun hat, über die niemand reden will: Den Gang zum Klo, Verdauung, mögliche Stuhlinkontinenz.
- Weil ein Stoma für viele ein Mysterium bleibt. Wer nicht versteht, wie es funktioniert, reagiert oft mit Unsicherheit – oder Ekel. Eine Narbe, eine Tasche am Bauch? SO WHAT.
- Weil Darmkrebs oft mit Schuldgefühlen verknüpft ist: Hätte ich früher zur Vorsorgeuntersuchung gehen sollen? Habe ich mich falsch ernährt? War ich zu unsportlich?
Anleitung: So überwindest du Scham
Scham ist gelernt. Und was gelernt ist, kann man auch wieder verlernen. Deswegen haben wir hier Tipps von Anja Mehnert-Theuerkauf und unserer Community für dich zusammengefasst.
1. Werde zum Experten oder zur Expertin deiner Erkrankung
Die Diagnose Darmkrebs haut erstmal rein. Verdauungsprobleme, Darm-OP, vielleicht sogar ein künstlicher Darmausgang: Themen, über die man selten freiwillig redet. Doch Wissen ist Macht. Je mehr du über deine Erkrankung weißt, desto weniger Angriffsfläche hat die Scham. Um Falschinformationen zu vermeiden, kannst du diese fünf Tipps beachten.
2. Hol dir Kraft aus der Community
Wer kann dich besser verstehen als Menschen, die dasselbe durchmachen? Selbsthilfegruppen können Gold wert sein – aber bitte die richtige. Mehnert-Theuerkauf rät, sich mit Personen zu umgeben, die positive Erfahrungen gemacht haben: „Es ist wichtig, die Spreu vom Weizen zu trennen.“ Austausch ist gut, aber Gejammere bringt niemanden weiter.
Geheimwaffe Humor
Esther Meyer aus unserer Community erzählt: „Als ich das erste Mal bei einem Treffen der Selbsthilfegruppe der ILCO war, hat ein Mann sehr konsequent und traurig erzählt, dass er mit Stoma ja auf alles verzichtet, was er gerne essen würde, weil er sonst den Beutel unterwegs wechseln muss. Ich habe ihm dann lachend erzählt, dass ich das komplette Bad renovieren muss, wenn ich nach falschem Essen „explodiere”. Nach einem Lacher hat er mir im Anschluss seinen Platz an der Toilette angeboten und im Restaurant Hackbraten mit extra Soße bestellt, was er sich vorher nie getraut hätte.”
3. Nutze die altbekannte Achtsamkeit
Wir kennen doch mittlerweile alle die viiielen Vorteile von Achtsamkeit. Über die haben wir schon oft gesprochen, zum Beispiel im Artikel „Affirmationen: Positiv denken will gelernt sein“. „Es geht darum, von der Scham wieder zu einem positiven Selbstbild zu kommen“, sagt Mehnert-Theuerkauf. Wertschätzung für den eigenen Körper und Selbstmitgefühl sind kein Esoterik-Käse, sondern dein Werkzeug für ein besseres Wohlbefinden.
Auf der nächsten Seite geht es weiter mit Tipps, Erfahrungen aus der Community und Hilfe bei Ghosting.
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