Föderalala – das Land der 1.000 Zuständigen
„Warum muss ich mich in jedem Bundesland an andere Regeln halten?” Das fragt sich das Gesundheitswesen im zweiten Tagebucheintrag. Dazu spricht es mit Gesundheitsökonom Thomas Czypionka. Und muss danach zur Therapeutin. Die schickt es auf eine Odyssee – eine Reise zu sich selbst.
Liebes Tagebuch,
Wusstest du, dass du in einem Krankenhaus manchmal andere Medikamente bekommst als in einem anderen? Und es manchmal besser für dich sein kann, im einen Bundesland krank zu werden statt im anderen? Der Frage, warum das so ist, bin ich heute auf den Grund gegangen. Und habe ein paar überraschende Antworten gefunden.
Aber starten wir am Anfang. Heute fühle ich mich noch mieser als gestern. Du erinnerst dich: Nach meinem Gespräch mit Cancer Nurse Martina Spalt war ich, naja, etwas niedergeschlagen. Ich habe einfach keinen Bock mehr. Mein Feuer ist erloschen. Du merkst es schon: Ich befinde mich im energetischen Zustand eines Marienkäfers, der zu nass ist, um zu fliegen. Time-out. Bitte. Geht aber auch nicht. Oder soll alles zusammenbrechen?
Das Gesundheitswesen erleidet einen Burn-out und begibt sich auf Ursachenforschung. Was findet es heraus?
Genau. Deshalb mach ich trotzdem weiter. Ich hatte mir ja eine Aufgabe gestellt: Ich wollte mir die Sache mit dem “fragmentierten Gesundheitssystem” anschauen. Klingt lustig, oder? Das Gesundheitswesen untersucht das fragmentierte Gesundheitswesen, haha. Aber im Ernst: Das Problem hat ja einen Namen. Föderalismus.
Blinddarm-Föderalismus
Ich vereinbare einen Call mit Thomas Czypionka – was nicht einfach ist, sogar für mich. Er ist leitender Forscher am Institut für Höhere Studien in Wien, einer der führenden Gesundheitsökonomen in Österreich. Und entsprechend busy. I feel you.
Thomas Czypionka – was hältst du vom Föderalismus im Gesundheitswesen?
Der Experte blinzelt in die Kamera. Und bringt ein Beispiel: die Blinddarm-OP. “Die läuft weltweit gleich ab. Medizin ist extrem standardisiert. Die Idee des Föderalismus ist aber, dass man lokale Gegebenheiten berücksichtigt. Und das ist in der Medizin eigentlich nur sehr schwer nachvollziehbar.”
Okay, toller Einstieg, denke ich mir. Und ahne, dass das Gespräch nicht so einfach wird für mich. Andererseits: Medizinische Versorgung besteht ja nicht nur aus Blinddarm-OPs. Gibt es nicht auch andere Bereiche, wo Föderalismus gut ist?
Was ist Föderalismus?
In einem föderalen Staat sind Gesetzgebung und Vollziehung auf Bund und Länder aufgeteilt. Das heißt: Die Bundesländer verfügen über eine begrenzte Eigenständigkeit, sind aber zu einem Gesamtstaat (Bundesstaat) zusammengeschlossen. In Österreich, und in geringerem Ausmaß auch in Deutschland, unterliegt auch das Gesundheitswesen diesem Prinzip.
Gibt es sie also, die Vorteile von Föderalismus?
Und tatsächlich: Der Gesundheitsökonom stimmt zu. Kann Sinn machen. Aber halt nicht in unserem Gesundheitswesen. “Es gibt nur ganz wenige Punkte, wo Föderalismus sinnvoll ist. Zum Beispiel, wenn die Bevölkerung sehr heterogen ist”, klärt der Experte auf. Wenn es etwa verschiedene Sprachgruppen gibt, wie in der Schweiz. Dann kann es hilfreich sein, die lokalen Bedürfnisse stärker einfließen zu lassen.
Bluten für die Blüten
“Die österreichische Bevölkerung ist aber ziemlich homogen. Wir haben dieselbe Sprache, dieselbe kulturelle Vergangenheit. Es gibt Unterschiede, die sind aber bei weitem nicht so groß, wie unser Föderalismus stark ist. Und das ist gerade im Gesundheitswesen, wo alles standardisiert abläuft, nicht gerechtfertigt.”
Das alles kommt uns ziemlich teuer zu stehen, sagt der Experte: “Weil wir nicht nur ein System haben, sondern mehrere.” Und das treibt skurrile Blüten: So müssen sich bundesweite Krankenhausträger in jedem Bundesland an ein anderes Gesetz halten. “Das ist doch ziemlich eigenartig”, meint er.
Planung ohne Plan
Okay, got it. Ich bin an einen Kritiker geraten. Kann er seine Skepsis aber auch untermauern? Dr. Czypionka, welche Beispiele gibt es denn, wo unser System für die Patient:innen von Nachteil ist?
Jetzt sprudelt es nur so aus ihm hervor (ich hab’s ja befürchtet). Er bringt das Beispiel Krebs:
Das klingt einleuchtend, denk ich mir. What’s the point?
Nun, statt einige wenige, hochspezialisierte nationale Krebszentren einzurichten, baut jedes Bundesland eigene Krankenhäuser. Mit oder ohne Krebsstationen. Genau: Wegen dem Föderalismus. Spitäler werden also lokal gedacht, pro Bundesland.
“Das heißt, das System ist darauf ausgerichtet, die Bevölkerung pro Bundesland zu versorgen. Die Standorte der Spitäler werden entsprechend geplant und nicht so, wie die Verteilung der Spitäler insgesamt sinnvoll wäre. Und das führt manchmal dazu, dass in zehn Kilometern Entfernung zwei Spitäler stehen.”
Jetzt verstehe ich: Statt die Expertise in wenigen hochspezialisierten Einrichtungen zu bündeln, müssen viele kleinere Krankenhäuser versuchen, mit den Entwicklungen in Diagnostik und Therapie Schritt zu halten. Das ist ein bisschen wie David gegen Goliath – nur ohne Happy End.
On the bright side: “Immerhin gibt es mit dem Österreichischen Strukturplan Gesundheit einen Versuch, das zentral mehr zu koordinieren”, fügt mein Gesprächspartner hinzu. Ist im kleinen Österreich auch mehr als sinnvoll.
Auf der nächsten Tagebuchseite erzähle ich dir, was das alles mit einem Puzzle zu tun hat.
Über die Serie
Stell dir vor, das Gesundheitswesen ist ein echtes Wesen. Es atmet, isst, trinkt, verdaut, fühlt. Und wenn es lange überlastet ist, funktioniert es nicht mehr wie sonst. In dieser Serie passiert genau das: Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und muss eine Auszeit nehmen. „Den Auslösern auf den Grund gehen“, wie die Psychologin sagt.
In 20 Tagebucheinträgen beschäftigt es sich mit sich selbst – und deckt nach und nach Probleme, Erfolge und Möglichkeiten auf. Dazu spricht das Gesundheitswesen mit allerlei Fachleuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz übers Bettenfahrern, die Pflegekrise oder Themen wie Föderalismus und Digitalisierung. Am Ende entsteht ein Gesamtbild der aktuellen Herausforderungen im System.