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Das Gesundheitswesen schreibt Tagebuch
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Gesundheit am Land – Von Schlangen, Walen und Kassen

Die medizinische Versorgung am Land ist lückenhaft. Um die alternde Bevölkerung zu entlasten, braucht es neue Versorgungskonzepte. Gesundheitszentren und was noch? Das Gesundheitswesen findet es heraus.

Versorgung, quo vadis? 

Ich finde Dr. Wudys Ordination. Sein Wartezimmer ist zu meiner Freude frei von Schlangen. Zwei Seelen sitzen geduldig da und grüßen mich freundlich. Das scheint keine Konkurrenzveranstaltung zum Kassenarzt zu sein. Jede:r bekommt eine großzügige Viertelstunde mit dem Doktor. Man hat wohl all die Zeit der Welt, wenn man Wahlärzt:in ist 

Ich setze mich hin, starre eine Weile auf den tüchtigen Putzerfisch, der an der Aquariumscheibe saugt, und potzblitz! Mir strömen tausend Fragen in den Kopf. Huch. So neugierig war ich lang nicht mehr.

Zeichnung schwarz weiß 2 Putzerfische
Putzerfische sind eine unterbewertete Quelle der Inspiration. (Illustration: Lena Kalinka)

Ich zücke mein Smartphone und tippe wild in die Suchmaschine. Ich will wissen, wieso die medizinische Versorgung am Land vor solch großen Problemen steht. Here’s what I found:

1. Das Altersproblem 

Eins ist mir schon mal klar: Die Bevölkerung wird älter und eine höhere Anzahl alter Menschen führt zu höherer Krankheitslast. So weit, so logisch. Der aussagekräftige Maßstab: Wie lange Menschen nach dem 65. Lebensjahr noch gesund sind. In Österreich sind es acht bis neun Jahre, während in Skandinavien die Menschen noch 15 bis 16 gute Jahre genießen dürfen.  

Ergo: Hierzulande gibt es mehr Oldtimer, die sich auf das System stützen. Hinzu kommt, dass alte Menschen weite Wege nicht mehr so gut schaffen und selten nur ein Krankheitsproblem haben – meist sind es mehrere gleichzeitig.   

Und nur weil sie alles über Gesundheit wissen, sind Ärzt:innen vom Altern nicht ausgenommen. Im ostdeutschen Sachsen sind beispielsweise ein Drittel aller Ärzt:innen über 60 und voraussichtlich geht bis 2035 die Hälfte der Hausärzt:innen in Rente. Diese unheilvolle Statistik betrifft Österreich genauso, denn hier wie da begeben sich die geburtenstärksten Jahrgänge (1955-1960) in den Ruhestand und tauchen relativ bald in der Krankenstatistik wieder auf.  

Währenddessen stagniert die Zahl der jungen Ärzt:innen, die nachkommen. Und dann finde ich auch noch heraus, dass 30 Prozent der Absolvent:innen sofort nach der Ausbildung ins Ausland gehen. Ist es wirklich so schlimm hier? Die Folge: leerstehende Praxen (130 Kassenstellen waren in Österreich 2018 unbesetzt, 2019 in Deutschland ganze 3.300) und überforderte Landärzt:innen 

Die Überalterung lässt sich wohl kaum aufhalten, daher stellt sich eher die Frage: Wie lockt man Jungmediziner:innen aufs Land und schließt Versorgungslücken? 

2. Das Verteilungsproblem 

Aber die Alterung allein kann doch nicht an allem schuld sein. Österreich und Deutschland haben schließlich mehr Ärzt:innen als je zuvor. In Deutschland sind es ca. 557.000, in Österreich fast 50.000, Tendenz steigend. Österreich ist sogar im erlauchten Kreis der Länder mit den meisten Ärzt:innen pro Kopf weltweit – nur Griechenland, Schweden und Kuba haben mehr. Aber man hat bei der Erhebung geschummelt: Die Ösis zählen nämlich auch Ärzt:innen in Ausbildung dazu. Statistikdoping nenne ich das. 

Zeichnung schwarz weiß Tafel mit Statistikpfeil und muskulösen Armen
In Österreich geht nicht immer alles mit rechten Dingen zu. (Illustration: Lena Kalinka)

Das Verteilungsproblem gestaltet sich in Deutschland und Österreich aber etwas unterschiedlich. 

In Österreich hat der Mangel folgenden Namen: Allgemeinmediziner:innen mit Kassenvertrag – jene Hausärzt:innen also, an die sich der gemeine Pöbel als erstes wendet. Anno 1970 war in Österreich jede:r 4. Ärzt:in Allgemeinmediziner:in mit Kassenvertrag, heute ist es jede:r 15 

Wo sind also alle hin? Ihr Anstieg geht in Hand in Hand mit dem Rücklauf an Kassenärzt:innen. Wieso will niemand mehr bei der Kasse “hakln” (österreichisch für „arbeiten“)? Und wie lässt sich das Ungleichgewicht lösen?

Zeichnung schwarz weiß Wal als Arzt
Was ist 30 Meter lang und nimmt sich Zeit für dich, wenn du krank bist? (Illustration: Lena Kalinka)

In Deutschland widmen sich von den 64.000 Arztpraxen immerhin 40% der Allgemeinmedizin. Das heißt, hier dreht sich die Problematik darum, dass die Versorgung in bestimmten ländlichen Regionen schlichtweg mau ist. Die Ärzt:innendichte unterscheidet sich von Region zu Region nämlich stark. Ein Überangebot in Ballungszentren wie Hamburg steht einer Unterversorgung in Brandenburg oder Niedersachsen gegenüber.  

Der Fall ist klar: Unterversorgung, besonders am Land, ist so gut wie vorprogrammiert, allen bisherigen Neuerungen zum Trotz. Aber wie immer ist das Problem auch eine Chance: Neue Versorgungsmodelle brauchen die Länder! Aber welche?  

Ob Dr. Wudy mehr weiß? Der ist immerhin vom Kassen- zum Wahlarzt gewechselt. Und hat sicher ein paar Ideen wie man die ländlichen Versorgungslücken füllt. 

Ich erwache aus meinem Bildschirmdelirium, als sich zwei Beine in mein Sichtfeld begeben. Dr. Wudy hat mich gleich erkannt und begrüßt mich herzlich in tiefstem Dialekt. Er bittet mich herein und bietet mir ein Glas Cola Zero an, ich verneine. Nach der üblichen Erinnerungsschwelgerei, erzähle ich ihm von dem Versorgungsproblem, das mich nicht mehr loslassen will. 

Der Wudy schaut mich verschmitzt an. “Schon mal von Primärversorgungseinheiten gehört?” Nicht besonders eingängig, denke ich mir. “Ist das dasselbe wie Gesundheitszentren?” Wudy nickt. 

Die Zukunft der Versorgung: umfassend, personenzentriert, kontinuierlich? 

Gesundheitszentren/Primärversorgungseinheiten 

Die große Neuheit am Praxismarkt. Die logische Weiterentwicklung der Gruppenpraxis – multiprofessionell, interdisziplinär, patient:innenzentriert, und für alle Ärzt:innen, die eine Praxis wollen, aber nicht unbedingt eigenständig wirtschaften. Hier können sich beliebig viele zusammentun.  

Dr. Wudy erwähnt Beispiele, da arbeiten über 20 Ärzt:innen unter einem Dach. “Da brauchen’s schon Namensschilder bei den Weihnachtsfeiern”, witzelt er. Ich stelle mir das Ganze währenddessen wie ein kleines Krankenhaus ohne Betten vor.

Zeichnung schwarz weiß Berg
Gesundheit ist auch eine Frage von Standort und Logistik. (Illustration: Lena Kalinka)

Mir wird langsam klar, warum das Gesundheitszentrum eine Win-Win-Situation für Hausärzt:innen und Patient:innen ist. Dieses Praxismodell rückt nämlich die Allgemeinmediziner:innen, genauso wie die Patient:innen, wieder in den Mittelpunkt. Um sie herum schart sich dann ein Team aus Orthopäd:innen, Physiotherapeut:innen und Fachärzt:innen aller Art, das Zugriff auf die gleiche Patient:innenakte hat.  

Somit ergeben sich für die Patient:innen Abkürzungen durch das Gesundheitssystem und alte Menschen können an einem Ort betreut werden 

Außerdem haben Ärzt:innen so die Möglichkeit, als Angestellte mit fixen Arbeitszeiten und Gehältern zu arbeiten. Dafür verpflichtet sich das Konglomerat aber auch zu viel strengeren Dienstzeiten. 7-19 Uhr, ganzjährig offen, keine Schließtage. Die Organisationsarbeit nimmt der:die praxiseigene Manager:in ab, der:die sich u.a. um die Personalstruktur kümmert.  

In Österreich wurde dieser Weg bereits vor zehn Jahren eingeschlagen, nur geht der Ausbau recht schleppend voran. “PVEs sind nicht gerade billig”, sagt mein informierter Freund. Bisher gibt es bloß 40 landesweit. In Deutschland wurden die ersten 2022 eröffnet, weitere sind geplant. 

Man müsste zwar noch ein wenig an den rechtlichen Rahmenbedingungen schrauben und Pflegefachkräfte mehr einbinden, aber im Gegensatz zum Rest ist das ist ein vergleichsweise kleiner Schritt. 

Auf der nächsten Seite diskutieren der Wudy und das Gesundheitswesen über neue, aufregende Versorgungskonzepte. 

Über die Serie

Stell dir vor, das Gesundheitswesen ist ein echtes Wesen. Es atmet, isst, trinkt, verdaut, fühlt. Und wenn es lange überlastet ist, funktioniert es nicht mehr wie sonst. In dieser Serie passiert genau das: Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und muss eine Auszeit nehmen. „Den Auslösern auf den Grund gehen“, wie die Psychologin sagt.

In 20 Tagebucheinträgen beschäftigt es sich mit sich selbst – und deckt nach und nach Probleme, Erfolge und Möglichkeiten auf. Dazu spricht das Gesundheitswesen mit allerlei Fachleuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz übers Bettenfahrern, die Pflegekrise oder Themen wie Föderalismus und Digitalisierung. Am Ende entsteht ein Gesamtbild der aktuellen Herausforderungen im System.

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