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Das Gesundheitswesen schreibt Tagebuch
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Gesundheit am Land – Von Schlangen, Walen und Kassen

Die medizinische Versorgung am Land ist lückenhaft. Um die alternde Bevölkerung zu entlasten, braucht es neue Versorgungskonzepte. Gesundheitszentren und was noch? Das Gesundheitswesen findet es heraus.

Kasse vs. privat 

Quantität = Qual? 

Eine halbe Stunde vergeht und ich sitze immer noch beim Doktor. Das Wahlarzt-Dasein scheint entspannt zu sein. “Das Letzte Mal, als ich dich gesehen habe, warst du doch noch Kassenarzt, oder?” Wudy lehnt sich zurück und plaudert aus dem Nähkästchen. Bis zu seinem 65. Lebensjahr betreute er eine Praxis in Weißenbach, im tiefsten Wienerwald – “…und bevor i in der Pension komplett verblöd‘, hob‘ i ma docht i moch‘ a Wahlarztpraxis auf. 

Während wir über sein Privatleben reden, werden die Vorzüge eines Wahlarztes schnell klar: geringere Arbeitsbelastung, mehr Lebensqualität. Man weiß halt einfach, wann man nach Hause kommt, kann sich sein Privatleben besser einteilen. Einziger Wermutstropfen: weniger Bezahlung. Dr. Wudy bringt es auf den Punkt: “Das Geld, das Kassenärzte verdienen, ist auch manchmal als Schmerzensgeld zu sehen.” 

Zeichnung schwarz weiß Kasse
Was macht *Ding* nach jede:r Patient:in und hat kaum Zeit für dich? (Illustration: Lena Kalinka)

Als er das sagt, erinnere ich mich an Statistiken, die zeigten, dass Allgemeinmediziner:innen immer noch viel weniger verdienen als Fachärzt:innen der Gynäkologie oder Dermatologie. 

Der Wudy spricht ungebremst weiter: 

“Das System zwingt Kassenärzte in einen gewissen Arbeitstrott – nämlich Masse.” 

Aha. Der Kassenvertrag bezahlt also nach Quantität. In Deutschland wird man hingegen nach Jahren der Erfahrung bezahlt.  

“Genau deswegen auch die ungeliebte 3-Minuten-Medizin. Pro Patient oder Patientin bekommt man 10€, das heißt man muss pro Stunde 200€ verdienen, damit man den Break-Even-Punkt erreicht und Miete, EDV, Angestellte, etc. bezahlen kann. Wenn eine bestimmte Zahl nicht erreicht wird, ist es schwierig, eine Praxis am Leben zu halten.”  

Es scheint, es ist einfach nicht besonders attraktiv, kassengebundene Allgemeinmediziner:in in Österreich zu sein. Was bringt gute Bezahlung, wenn man überarbeitet und gestresst ist? 

Zeit = Geld? 

Angesprochen darauf, ob es normal ist, 120 Patient:innen am Tag zu sehen, meint Dr. Wudy:  

“Wenn man diese Zahl einem Arzt oder einer Ärztin in einem Land mit starker Primärversorgung wie der Schweiz erzählt, dann sagen die ‘Das ist aber viel für eine Woche!’ ‘Nein, diese Zahl gilt für einen einzigen Tag!’ Der Schweizer hat am Tag vielleicht zehn bis 15 Patient:innen.” Der Grund dafür ist die gute Vorselektion. Nicht jede:r Patient:in muss gleich zum Doktor.  

Ich verstehe langsam, warum viele Mediziner:innen ins Ausland abwandern. 

Wir unterhalten uns eine Weile über die aktuellen Entwicklungen und die Zeit vergeht wie am Schnürchen. Seine Lockerheit steckt mich an und ich schäme mich fast dafür, bisher immer so verbissen und ernst gewesen zu sein. Ja, es ist nicht alles perfekt, aber während unseres Gesprächs kommen so viele verschiedene Lösungsansätze auf, dass ich nicht anders kann, als Hoffnung zu schöpfen. 

Versorgung neu gedacht 

Dabei wird auch klar, dass das Gesundheitszentrum keine “One size fits all”-Lösung ist. Und das ist auch okay so. Weil es eine Vielzahl an innovativen Versorgungskonzepten gibt, die, wenn sie intelligent aufeinander abgestimmt werden, wie Zahnräder ineinandergreifen, sodass auch noch die letzte Brunhilde in Hintertupfingen medizinisch versorgt werden kann.  

Der Wudy lässt das Cola Zero fließen, während wir diskutieren, was unser Versorgungsnetzwerk noch zukunftsreif machen könnte: 

  • Telemedizin 

Nicht erst seit der Vergötterung virtueller Distanzüberbrückung während der Corona-Pandemie drängt sich die Telemedizin auf. Der Vorteil ist offensichtlich: Patient:innen müssen nicht wegen jeder kleinen Besprechung eine Odyssee zu den Gött:innen in Weiß auf sich nehmen 

Aber Dr. Wudy und jede:r andere kritisch denkende:r Ärzt:in weiß: “Die Telemedizin hat wahnsinnige Grenzen. Sie ist ein Hilfsmittel, aber keine allseligmachende Lösung.” 

Aber immerhin: Virtuelle Sprechstunden sind möglich und dringend nötig, Monitoring von Herzfrequenz, Blutdruck, etc. auch. Dr. Wudy selbst arbeitet an einem Projekt mit, das eine App entwickelt, mit der man unklare Hautveränderungen per Handy zur Diagnose an Hautärzt:innen schickt 

  • Landarztquote 

…nennt sich eine Maßnahme, die mittlerweile mehrere deutsche Bundesländer eingeführt haben, um Medizinstudent:innen (und somit künftige Ärzt:innen) langfristig ans Land zu binden 

Der Deal geht folgendermaßen: Man erlaubt Studienanwärter:innen, die keinen 1,0 Abitur-Schnitt haben, und deswegen normalerweise auch nicht Medizin studieren dürften, einen Platz an der Uni – unter der Bedingung, dass sie sich verpflichten, ihr zukünftiges Dasein irgendwo in einer unterversorgten Region als Landärzt:in zu fristen 

Zeichnung schwarz weiß Mensch mit Messlatte wartende Menschen
Die Messlatte wurde für angehende Landärzt:innen ein wenig niedriger gesetzt. (Illustration: Lena Kalinka)

Wer dem Vertrag nicht gerecht wird, zahlt eine saftige Strafe von 250.000€. Einerseits kann man das Ganze kritisch sehen, weil Studis in eine Zukunft gezwungen werden, die ihnen vielleicht gar nicht entspricht. Jungen Leuten, noch dazu der abwechslungsfreudigen Gen Z entspringend, 15 Jahre vorzupflastern, ist waghalsig.  

Aber immerhin: Die Landarztquote scheint bis dato ein großer Erfolg zu sein, jedes Jahr gibt es mehr Bewerber:innen als Studienplätze. Mal sehen, ob sie auch ihr Studium fertig machen. Denn wer abbricht, muss keine Strafe zahlen.  

  • Föderalismus abschaffen 

Eine Frage bleibt am Ende unseres Gesprächs noch fahl im Raum hängen: Wie bringen wir das Ungleichgewicht zwischen Wahl- und Kassenärzt:innen wieder in Balance? Wudy zögert nicht lange mit der Antwort: “Ganz einfach: Länder abschaffen.” Ich nicke verständnisvoll. Damit meint er nicht totale Anarchie, sondern den Föderalismus, der das Gesundheitssystem plagt. Thomas Czypionka hat mir am Anfang meiner Reise schon so viel über die Überflüssigkeit des Föderalismus erzählt. 

In Österreich, und in geringerem Maß auch in Deutschland, unterliegt das Gesundheitssystem der Eigenständigkeit der einzelnen Bundesländer. Viel Sinn macht das mittlerweile aber nicht mehr. Denn eine bundesweite Standardisierung würde Abläufe effizienter, Absprachen einfacher und Machtspiele unwahrscheinlicher machen.  

Das Wesen wird gesund

Als wir so über den Föderalismus reden, merke ich, wie weit ich schon gekommen bin. Wie viel mehr ich weiß als damals vor meinem Burnout. Vielleicht hat es die Orientierungslosigkeit gebraucht, um wieder in die richtige Spur zu finden und die wahren Probleme zu erkennen. Ich verabschiede Dr. Wudy und danke ihm für ein Gespräch, das mir wieder mal so viel zu erkennen gegeben hat. 

Als ich aus der Praxis und auf die Straße hinaustrete, zieht mir ein frischer Geruch in die Nase. Es hat geregnet. Vor mir tut sich ein Regenbogen auf, mir wird warm im Bauch. Es liegt an mir, etwas zu verändern. Und irgendwie habe ich total Bock drauf, egal was es kostet. Was wohl noch vor mir liegt?

Was ich heute gelernt habe: 

  • Bessere Primärversorgung würde überarbeitete Kassenärzt:innen entlasten.
  • Gesundheitszentren sind ein guter Schritt in die richtige Richtung.
  • Die Alterung der Bevölkerung lässt sich nicht aufhalten.
  • Versorgungslücken können mit innovativen Kooperationsmodellen geschlossen werden.
  • Huch. Mein inneres Feuer ist wieder entflammt.

Quellen zum Weiterlesen: 

Titelbild: Lena Kalinka/Max Wudy

Über die Serie

Stell dir vor, das Gesundheitswesen ist ein echtes Wesen. Es atmet, isst, trinkt, verdaut, fühlt. Und wenn es lange überlastet ist, funktioniert es nicht mehr wie sonst. In dieser Serie passiert genau das: Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und muss eine Auszeit nehmen. „Den Auslösern auf den Grund gehen“, wie die Psychologin sagt.

In 20 Tagebucheinträgen beschäftigt es sich mit sich selbst – und deckt nach und nach Probleme, Erfolge und Möglichkeiten auf. Dazu spricht das Gesundheitswesen mit allerlei Fachleuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz übers Bettenfahrern, die Pflegekrise oder Themen wie Föderalismus und Digitalisierung. Am Ende entsteht ein Gesamtbild der aktuellen Herausforderungen im System.

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