Heilende Naturtour mit einem Krebs-Grizzly
Peter Gajdorusz hat mehrere Schicksalsschläge abbekommen: Prostatakrebs, Trennung, Tod. In Zeiten intensiver Strömung besinnt er sich zurück zu seiner ersten Liebe – der Natur. Unser Redakteur David begleitet ihn zu seinen “Lieblingsplatzerln”.
Trennung, Erkennung, Änderung
Wir kommen im malerischen Dörfchen Dürnstein an, wo mich der Grizzly-Peter durch enge, mittelalterliche Gassen führt. Wir setzen uns auf eine Bank. “…aber das Schlimmste am Krebs war gar nicht der Krebs, sondern die Trennung.” Wie er verlassen wurde, tut nach einem Jahr immer noch höllisch weh. “Ich bin nah am Wasser gebaut, bin viel am Boden gesessen und habe geheult.” Im Nachhinein gibt er zu, er war generell nicht am richtigen Ort im Leben damals.
Der Wandel kam halt in einer Flut daher, da wird man mitgerissen, ob man will oder nicht. Das quirlige Überbleibsel aus dem letzten Leben ist der Golden Doodle, der nun geduldig vor uns sitzt. “Ja, den hatten wir uns eigentlich gemeinsam angeschafft. Mittlerweile haben wir eine irrsinnige Bindung aufgebaut.” Genau jener Trennungshund sorgt jetzt dafür, dass er fast jeden Tag lange Wanderschaften in der Natur unternimmt.
Tiere können in schwierigen Lebensphasen extrem therapeutisch wirken. In diesem Artikel erfährst du mehr darüber.
Der Grizzly erzählt mir von einem Ort, den er auf diese Weise gefunden hat: “Es war so schön dort, dass ich einfach nur aus Dankbarkeit geheult habe.” Ich frage ihn, ob er mich dorthin bringen kann. Er nickt, es sei auf einer Insel inmitten der Donau und nicht allzu weit.
Into the Wild
Wir steigen wieder ins Auto und genau in dem Moment fängt es an zu schütten. Ein “Schade” entfleucht mir, während mein Blick auf eine kleine Grizzly-Figur auf dem Armaturenbrett fällt. Die Natur scheint der wiederkehrende, wortwörtlich erdende Faktor in Peters Leben zu sein.
“Schon als Kind habe ich immer am Bach gespielt. Wir haben am Waldrand gewohnt und ich bin den ganzen Tag mit einem Fernglas durch die Gegend gezogen und habe Tiere vom Hochstand aus beobachtet.” Unser Weg schlängelt sich durch Apfelbaum-dominierte Obstgärten.
Angekommen, hört es prompt wieder auf zu regnen. Stattdessen spiegelt sich die fröhliche Sonne auf den nassen Blättern. Zu Fuß überqueren wir eine überflutete Sandbank, um zu einer Insel überzusetzen. Auf der anderen Seite zeigt Peter auf die Bewohner der Insel, dickstämmige Schwarzpappeln und erklärt, dass sie mehrere Jahrhunderte alt seien.
Peter muss es wissen. Vor einigen Jahren hat er nämlich eine Ausbildung zum Natur- und Landschaftsführer gemacht und immer wieder mal Führungen gegeben, mit dem Ziel, die Naturwahrnehmung der Leute zu fördern. “Die meisten Menschen können sich gar nicht vorstellen, wie viel ein Quadratmeter Wienerwald zu bieten hat”, wettert Peter begeistert weiter. Dann ruft er mit hoher Stimme seine Hündin, die gerade irgendwelche Pflanzen verspeist.
Wegen seiner Krebserkrankung ist Peter nun frühpensioniert. Davor hat er in der Nuklearmedizin für die Stadt Wien programmiert. “Lustigerweise habe ich genau das programmiert, was ich als Therapie bekommen habe. Bei der Bestrahlung habe ich mir gedacht: ‘Jetzt weiß ich endlich, was eine Gammakamera ist’. Lustig, wie das Leben spielt. Theorie ist wohl oder übel zur Praxis geworden.“
Abenteuertage
Und plötzlich sind wir da. Am Ende der Insel – ein Sandstrand, Bäume, die ins Wasser ragen, ein märchenhafter Ausblick auf den Fluss und die dahinterliegenden Weinberge. Zwei Schwäne landen am Wasser, als ob uns die Natur den Moment noch zusätzlich versüßen will. Sooky ist kurz davor, ins Nass zu springen und sich einen der fauchenden Schwäne vorzunehmen. Ich kann verstehen, warum Peter hier heulen musste.
Er erzählt mir von einem ähnlichen Moment, als er ein gesamtes Dorf versammelt hatte, um in den Donauauen den “Altenwörther Abenteuertag” zu veranstalten. Circa hundert Leute waren gekommen.
Er lehrte den Kindern Bogenschießen und wie man ein Lagerfeuer entfacht. Es gab Kanus, Buffet, Spaß und Gemeinschaft. Und am Ende des Tages saß er allein auf der Wiese und heulte vor Glück. “Wie glücklich bin ich, dass ich das jetzt hab.” An diesem Tag erfuhren auch einige Leute von seiner Krebserkrankung, mit der er völlig offen umging.
Diese Offenheit wurde von den Menschen reflektiert. “Weil es ein voller Erfolg war, werde ich den Abenteuertag dieses Jahr wieder machen, diesmal hoffentlich mit ein paar Sponsoren.” Alle Erlöse dieses Events gehen an die Kinderkrebsforschung.
Blättere um! Da zeigt uns der Grizzly-Peter, wie er die Frühpension als Chance für ein aktives Leben nutzt.
Über die Serie
Jeder Mensch hat zwei Leben. Das zweite beginnt dann, wenn du realisierst, dass du nur ein Leben hast, und die Welt sich anders anfühlt. Durch den massiven Eingriff von Krebs & Co findet ein Sinneswandel statt. Falls dein Lebensweg bisher an Sinn vermissen ließ, wird das im Angesicht der Endlichkeit furchtbar klar.
Die Sinneswandel-Serie beschäftigt mit der Vielfalt an Bewältigungsstrategien, die Krebspatient:innen entwickeln, um mit all den weitreichenden Veränderungen umzugehen. Coping ist eine Kunst, und Kunst sensibilisiert die Sinne. Durch unsere Community wissen wir: Manche haben besonders kreative und authentische Ansätze gefunden. Sie haben inspirierende Geschichten gelebt, Prüfungen bestanden, schwere Entscheidungen getroffen – und wir entnehmen die Essenz dieser Lebenswege und gießen sie in tieftauchende Porträts.