Mitsprache: Woanders ist das Gras immer grüner
Wusstest du, dass die Einbindung von Patient:innen in Großbritannien verbindlich ist und deutsche Patient:innen zwar mitreden, aber nicht mitbestimmen dürfen? Darum geht es in diesem Artikel, in dem wir auf der Suche nach Inspiration für mehr Mitsprache über die Grenzen blicken. Und somit über unseren Tellerrand.
Blick nach Finnland
Sie haben den Ruf, fortschrittlich, innovativ, digital und etwas crazy zu sein. Sie lieben die Sauna. Und, weniger bekannt: Sie erfanden die Schlittschuhe, den Molotowcocktail und das legendäre Handyspiel Angry Birds. Die Rede ist von den Finn:innen.
Ähnlich wie Dänemark genießt ihre Heimat in den Ruf, ein hochmodernes, gut funktionierendes Gesundheitssystem zu haben. Ein Muss für diesen Artikel, dachten wir – müsste dann nicht auch die Patient:innenmitsprache vorbildhaft sein? Die Antwort: Jein.
Wir haben darüber mit Emma Andersson gesprochen. Sie ist Advocacy Spezialistin bei Suomen Syöpäpotilaat ry. Falls euer Finnisch eingerostet ist: Das steht für “Verband der Krebspatient:innen in Finnland”. Was Emma berichtet, ist ermutigend, teilweise aber auch überraschend.
Emmas Hauptaufgabe ist es, Feedback von Krebspatient:innen einzuholen, wenn neue Medikamente eingeführt werden. Dieses Feedback berichtet sie an die zuständige Kommission im Gesundheitsministerium, die – ähnlich wie der Gemeinsame Bundesausschuss in Deutschland – darüber entscheidet, ob die Kosten für ein Medikament erstattet werden.
Um diese Fragen zu beantworten, arbeitet sie mit Patient:innengruppen zusammen, die in Finnland hauptsächlich in Facebook-Gruppen organisiert sind. Dort bittet sie um Feedback und Erfahrungswerte, und ergänzt diese durch Infos von Ärzt:innen und internationalen Interessensverbänden. Auf dieser Grundlage schreibt Emma eine Empfehlung und übermittelt diese an das Ministerium.
Überhaupt scheint man in Finnland großen Wert auf Feedback zu legen: So werden neue Projekte und Empfehlungen des Gesundheitsministeriums und der Zulassungsbehörde für Medikamente auf die öffentliche Webseite “Otakantaa” hochgeladen. Das bedeutet “Nimm Stellung”, und genau dazu werden Patient:innenorganisationen, aber auch alle Bürger:innen eingeladen.
Insgesamt gibt es in Finnland sieben solcher öffentlichen Plattformen für Bürger:innenbeteiligung, zu den verschiedensten Themen.
Die finnische Einbahn
Klingt zu schön um wahr zu sein? Da ist was dran. Emma Andersson: “Wenn wir unsere Stellungnahmen zu Medikamenten abgeben, war’s das auch schon. Wir wissen nie, ob sie etwas bewirkt haben. Es ist eine Einbahn.” Dasselbe gelte auch für das Feedback über das öffentliche Forum “Otakantaa”: “Es ist dasselbe – es verschwindet im Nichts.”
Dennoch ist Emma Andersson optimistisch, was die Einbindung von Patient:innen betrifft. “Patient Advocacy wird in Finnland ziemlich gut angenommen”, berichtet sie. “Wir Patient:innenorganisationen sind ziemlich laut und werden in viele Themen eingebunden. Bei Forschungsprojekten etwa werden wir oft von der Planung über die Umsetzung bis hin zum Follow-up einbezogen.” Sie fügt aber hinzu: “Natürlich gibt es aber auch oft Projekte, bei denen wir nur pro forma beteiligt sind.”
Das kommt uns bekannt vor.
Was nehmen wir mit aus dieser Recherche?
Wie du gesehen hast, scheint das Gras woanders tatsächlich oft grüner zu sein. Jenseits unserer Grenzen gibt es viele inspirierende Ansätze für Mitsprache:
- Von Healthwatch in Großbritannien…
- über die evidenzbasierte Mitsprache in Dänemark…
- bis hin zu Finnlands systematischer Befragung von Patient:innengruppen.
Klar wurde aber auch: Woanders wird auch nur mit Wasser gekocht.
- Die finnische Expertin bezeichnet das dortige Feedbacksystem als “Einbahn”.
- In Großbritannien leidet die Mitsprache unter dem schwächelnden Gesundheitssystem.
- Und international kommt Deutschland mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss trotz fehlenden Stimmrechts für Patient:innen gar nicht so schlecht weg.
Das soll uns nicht davon abhalten, weiterhin über den Tellerrand zu blicken und uns inspirieren zu lassen.
Um es noch ein letztes Mal mit Shakespeare zu sagen: Jedes Ding hat seine Zeit. Und die Zeit der Patient:innenmitsprache ist eindeutig angebrochen.
Was fordert Kurvenkratzer?
“Wir fordern eine Beteiligung, die auf harten Fakten statt auf Goodwill beruht. Deshalb müssen mehr Werkzeuge eingesetzt werden, die – ähnlich wie in Dänemark – eine evidenzbasierte Entscheidungsfindung für Politik und Forschung ermöglichen, unter voller Einbindung der Betroffenen und ihrer Zugehörigen von Anfang an. Darüber hinaus treten wir für ein volles inhaltliches Stimmrecht für die patient:innengetriebene Interessenvertretung an den gesundheitspolitischen Verhandlungstischen ein.“
Quellen und Links:
- Auf der ihrer Website informieren die deutschen Patient:innenvertreter:innen über ihre Arbeit im Gemeinsamen Bundesausschuss.
- In diesem Bericht des Wiener Instituts für Höhere Studien werden die Beteiligungsansätze in verschiedenen Ländern gegenübergestellt.
- Hier geht’s zur englischsprachigen Seite von Danske Patienter, der dänischen Dachorganisation für Patient:innen.
- In Großbritannien setzt sich Healthwatch für die Belange von Patient:innen ein.
- Wikipedia-Eintrag über das System der Foundation Trusts in Großbritannien (Hinweis: Wikipediaartikel sind informativ, aber oft nur bedingt objektiv).
- Suomen Syöpäpotilaat ry ist der Verband der Krebspatient:innen in Finnland und setzt sich für deren Belange ein.
- Über das Portal Otakantaa können Finn:innen ihre Meinung kundtun, etwa über neue Projekte und Empfehlungen des Gesundheitsministeriums und der Zulassungsbehörde für Medikamente.
Titelbild: Pexels/Lara Jameson
Über die Serie
Stell dir vor, du hast kein Wahlrecht. Du lebst zwar in einem modernen Staat, doch es gibt niemanden, der oder die deine Interessen vertritt. Sobald du bei Entscheidungen mitreden willst, heißt es: Sorry, das geht nicht. Du bist ja kein:e Expert:in. So ähnlich könnte man den aktuellen Zustand der Patient:innenvertretung beschreiben. Okay, das Gesundheitssystem ist natürlich keine Diktatur. Tatsache ist aber, dass Patient:innen in vielen Ländern bei wesentlichen Entscheidungen kaum mitbestimmen können. Genau darum geht es in “Mit uns statt über uns”. In unserer Serie machen wir erfahrbar, warum es dringend mehr anerkannte, professionelle Patient:innenvertretungen braucht. Wir greifen das Thema in aller Tiefe auf. Zeigen Beispiele, blicken in andere Länder, entlarven die Einwände, sprechen über Vorteile und schlagen vor, wie ein Paradigmenwechsel funktionieren könnte.
Mit dieser Serie verbinden wir zwei Leidenschaften. Wir sind ein Magazin, arbeiten journalistisch und fühlen uns ausgewogener Berichterstattung verpflichtet. Wir sind aber auch Teil von euch, unserer Patient:innencommunity, und wollen mehr Mitsprache. Wir nehmen uns nichts Geringeres vor, als beides zu erreichen.