Palliativ: Erste Klasse für Reisende ohne Rückfahrkarte
Es gibt Wörter, die schmerzhafte Beklemmungen auslösen können. „Palliativ“ ist so eine Daumenschraube der Hoffnung. In diesem Artikel befreien wir uns von den ollen Horrorstorys, erklären, warum in der Palliativversorgung neue, ganzheitliche Wege gegangen werden und wir das Wort „austherapiert“ hinter uns lassen.
In diesem Artikel Erfährst du:
- Positives über Palliatives,
- welche Möglichkeiten der palliativen Versorgung es gibt,
- und wie du in Deutschland, Österreich oder der Schweiz ambulant oder stationär Palliativpflege in Anspruch nehmen kannst.
Eigentlich beschreibt der Begriff „palliativ“ eine wunderbar wohlige Wirkung: Lateinisch palliare bedeutet einfach „mit einem Mantel bedecken“. Da steckt Fürsorge, Schutz und Wärme drin.
Kennst du die Legende von Sankt Martin? Der Gute hat tatsächlich nicht den Laternenumzug begründet. Als römischer Soldat ist er über Nacht vom Übeltäter zum Wohltäter mutiert, weil er mit seinem Schwert nicht mehr Menschen, sondern seinen Mantel zweiteilte. Als er den warmen Fetzen dann einem frierenden Bettler schenkte, war sein Karma-Konto voll und die Welt um die Idee der heilsamen Fürsorge reicher.
Warum wir euch diese Geschichte erzählen? Weil Palliativversorgung quasi der Sankt Martin unter den Therapieformen ist. Und zwar für alle Erkrankungen, die als unheilbar eingestuft werden. Neben Krebserkrankungen sind das z. B. auch chronische Lungenkrankheiten, Herzerkrankungen, Demenz, Multiple Sklerose oder Morbus Parkinson.
Aufgeklärt statt austherapiert
Ist palliativ wirklich das Allerletzte? Oder geht’s einfach nur runter von der Autobahn der kurativen Therapien und weiter auf den entschleunigten Landstraßen der Palliativmedizin?
Sätze wie „Sie sind austherapiert“ wird man auf einer Palliativstation oder in einem Hospiz kaum zu hören bekommen. Das Besondere an der Palliative Care ist der Rundum-Support in allen Lebensbereichen. Auch ein Gespräch oder eine fürsorgliche Geste kann therapeutisch wirken.
Wer hat’s erfunden?
Pioniere der Palliative Care
Cicely Saunders – die Mutter der Hospizbewegung
Die Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin gründete 1967 das St. Christopher’s Hospice in London und prägte den ganzheitlichen Ansatz in der Palliativmedizin. Ihr ist zu verdanken, dass der Mensch im Mittelpunkt steht, nicht seine Krankheit.
Balfour Mount – der Palliativ-Pionier aus Kanada
Dr. Balfour Mount eröffnete 1975 die erste Palliativstation in Montreal. Er prägte den Begriff „Palliative Care“, weil im französischsprachigen Kanada das Wort „Hospiz“ eine andere Bedeutung hatte. Durch sein Engagement verbreitete sich die Palliativmedizin auf dem amerikanischen Kontinent.
Elisabeth Kübler-Ross – die Trauer-Expertin
Elisabeth Kübler-Ross, schweizerisch-amerikanische Psychiaterin, interviewte Sterbende und veröffentlichte diese Stellungnahmen in ihrem berühmten Buch „On Death and Dying“. Sie plädierte für einen bewussten und natürlichen Umgang mit den Prozessen des Sterbens und Trauerns.
Kreative Lösungsfinder und kluge Strategen
Sterben – und das ist so sicher wie der Tod – ist nicht das Ziel einer palliativen Versorgung. Die Palliativmedizin folgt einem ganzheitlichen Ansatz, bei dem nur eins zählt: Das Leben eines unheilbar erkrankten Menschen so schön und schmerzfrei wie möglich zu gestalten. Ohne Countdown.
Palliativmediziner:innen sind ausgesprochen kreative Lösungsfinder:innen und spezialisiert darauf, individuell auf jede Veränderung einzugehen. Geht nicht, gibt’s nicht.
Ein Beispiel aus der Praxis: Wenn Schmerzmittel nicht mehr in Form von Tabletten eingenommen werden können, werden schrittweise Alternativen besprochen, von rektal (über den After), über subkutan (unter die Haut) bis zur intravenösen Gabe (in die Venen).
In der Palliativversorgung ist viel mehr Zeit für den Menschen und seine ganz individuellen Bedürfnisse. Deshalb raten Expert:innen auch davon ab, die Entscheidung, wie es weitergehen soll, aufzuschieben.
„Am besten gleich nach der Diagnose,“ empfiehlt Prof. Dr. Eva Katharina Masel, Leiterin für Palliativmedizin am Allgemeinen Krankenhaus Wien. Du kannst das Gespräch mit ihr in der 13. Folge unseres Podcasts „Let’s talk about Krebs, Baby!“ nachhören.
Smells like Team Spirit
Wer glaubt, dass der Weg in ein Hospiz von einem Trauermarsch begleitet wird, sollte den Sender wechseln. Hier gibt ein multiprofessionelles Team an Palliativfachkräften den Ton an.
Vom Schmerzmanagement bis zur Schlaflosigkeit, von der Inkontinenz bis zur Seelsorge: Palliativ reicht weit über die Grundversorgung hinaus. Endlich steht der Mensch im Mittelpunkt und nicht die Erkrankung. Laut Weltgesundheitsorganisation umfasst das die gesamte Pflegeeinheit (“unit of care”) also auch Angehörige und Freund:innen. Palliativ rockt einfach.
Neuer Input für die Schulmedizin
Die Palliativmedizin ist noch relativ jung (siehe Infobox unten). Seit den 1970ern fließen neue Therapieformen und Betreuungskonzepte aus der internationalen Hospizbewegung in die Schulmedizin ein. Zwischen den 1990ern und heute haben sich die Angebote in der palliativen Versorgung exponentiell vervielfacht.
Seit 2014 sind Leistungsnachweise im Fach „Schmerz- und Palliativmedizin“ Teil des Medizinstudiums in Deutschland. Ein gutes Zeichen, dass professionelle Begleitung zum Standard wird: Von 100 im Jahr 2005 ist die Anzahl der Ärzt:innen mit der Zusatzausbildung in Palliativmedizin in der Bundesrepublik bis Ende 2021 auf über 14.600 gestiegen.
Auf der nächsten Seite erfährst du, wo und wie eine palliative Versorgung in Anspruch genommen werden kann.
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Über die Serie
Oh nein, nächstes Tabuthema auf Kollisionskurs! Als ob Krebs nicht ausreicht. Machen wir uns nichts vor: Krebs wird direkt mit Sterben, Tod und Trauer in Verbindung gebracht, auch wenn viele Krebserkrankungen gar nicht tödlich sind. Geht’s doch schließlich ums Abschiednehmen, das alte Leben loslassen.
Wer uns kennt, weiß, dass wir alles locker, aber nichts auf die leichte Schulter nehmen. Schon gar nicht das Lebensende. Scheiden tut weh, keine Frage, und den Löffel abzugeben ist nicht lustig, aber wer zuletzt lacht, soll am besten lachen. Lass uns gemeinsam ins Gras beißen! Wie, das erfährst du in dieser Serie.