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Entwicklung von Trauer über die Zeit
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So bahnst du dir den Weg durch das Trauerlabyrinth

Tränen. Die Brust wird eng. Die Gedanken surren. Wir alle kennen die Symptome der Trauer. Wie sich Trauer aber über die Zeit entwickelt und verändert, ist teilweise noch ein Rätsel. Wir gehen den Mythen auf den Grund und führen dich sicher durch den Irrgarten der Trauer.

Du bist hier richtig, wenn: 

  • Du mit Trauer zu kämpfen hast und wissen willst, wo du ansetzen kannst. 
  • Du wissen willst, wie sich Trauer im Laufe der Zeit entwickeln kann. 
  • Du nach konkreten Vorschlägen zur Trauerbearbeitung suchst. 

Trauer. Einmal konfrontiert, weiß man, wie der Hase läuft. Egal ob Verlust eines oder einer Geliebten, große Diagnose, oder verstorbenes Haustier: Wir wissen, wie man trauert. Es ist auch nicht schwer, es passiert von ganz allein 

Beim Umgang mit Trauer tun wir uns aber oft schwer. Wir irren umher und suchen nach dem richtigen Weg. Aber wie ist das nun? Wird der Weg leichter und die Trauer weniger, je länger wir ihn gehen – ganz nach dem Motto „Zeit heilt alle Wunden“?  Gewöhnen wir uns schlicht an das Gefühl und dann ist irgendwann *Puff* der Schmerz einfach weg? 

Wir zeigen dir einige Modelle, die sich mit der Veränderung von Trauer über die Zeit beschäftigen und führen dich heraus aus dem Trauerlabyrinth.  

„Das war doch nur ‘ne Phase!“ oder „Alles steht Kopf“ 

Lange Zeit basierte die Trauerverarbeitung in der populären und wissenschaftlichen Diskussion auf dem Phasenmodell der Trauer. Dieses Modell wurde vor allem durch die Arbeit von Elisabeth Kübler-Ross in den 1960er Jahren bekannt und besteht aus fünf Stufen.  

Der Hintergrund? Früher glaubten Forschende, der Prozess der Trauerverarbeitung sei für jeden Menschen linear – und ein zielgerichteter Prozess, der sich von Mensch zu Mensch, wenn überhaupt, nur in Bezug auf die Dauer der jeweiligen Phasen unterscheidet. Vorgestellt hat man sich das ungefähr so: 

Hä, war was?Wer braucht schon Realität, wenn man sich mit Ausreden selbst beruhigen oder in die eigene heile Welt abtauchen kann? Die Verleugnung erscheint als erstes in der Schaltzentrale in deinem Kopf und sucht dir in dieser ersten Phase den einfachsten Weg heraus. Was nie passiert ist, muss schließlich auch nicht bewältigt werden. Was sie aber noch nicht weiß: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. 

Und so übernimmt in Phase 2 die Wut das Kommando und lässt dich mal eben mit dem Kopf voran gegen die Wand laufen. Das Problem? Das Labyrinth lässt sich nicht austricksten und stellt dir eine meterdicke Mauer entgegen, an der Fragen wie „Warum ich?“,  „Warum jetzt?und  „Warum überhaupt?“ einfach abprallen. Was nun? 

„Lass‘ mich mal machen!“, hört man die Händlerin sagen, die Schuldgefühle gegen eine Besserung deines Verhaltens eintauschen will und sich dadurch eine wundersame Lösung aller Probleme verspricht. Wenn du dieses und jenes im Alltag nicht mehr machst (oder eben schon machst), wird die erlebte Situation schließlich nie wieder passieren.  

Klappt vielleicht beim nächsten Getränk, wenn die erlebte Situation ein Kater am nächsten Tag war – aber bei einem Labyrinth, dessen Ausgangspunkt der Verlust einer geliebten Person ist? Ick weees ja nich‘. 

Und so navigiert uns das Team aus Gefühlen in die nächste Sackgasse. Was nun? Wenn wir nach mehreren Versuchen einfach nicht aus dem Labyrinth der Trauer herausfinden, könnte uns der Depressionsminotaurus einholen. Aber was ist das? Da liegt ein goldenes Garn auf dem Boden. Und es leuchtet so schön. Lass uns dem folgen: Was du gegen Depression tun kannst, haben wir dir in diesem Artikel zusammengetragen.

Endlich. Das Gewühlswirrwarr hat sich beruhigt, die Resignation sitzt nun am Steuer. Wir arrangieren uns mit der Situation und beginnen, wieder emotionale und alltägliche Aufgaben zu übernehmen. Auch das Labyrinth lichtet sich und wir finden uns immer besser zurecht.  

Linker Fuß auf Blau 

Schonmal von diesen Phasen gehört? Wundert uns nicht. Nach wie vor ist dieses Modell weitgehend bekannt, aber Achtung: Bis heute gibt es für die fünfphasige Trauerentwicklung keine empirischen Belege 

Trauerexpert:innen wie die Wissenschaftlerin und Trauerberaterin Heidi Müller sind nun davon überzeugt, dass andere Ansätze tiefere und flexiblere Einblicke in den Trauerprozess bieten und  besser zu den individuellen Erfahrungen der Betroffenen passen.  

So fühlt sich Trauer manchmal eher nach einer Partie Twister an als ein gerader Weg mit fünf Stationen. Du siehst zwar den gelben Kreis, auf den der linke Zeh soll, aber dieser schafft es einfach nicht dahin. Der Körper ist zu sehr verknotet. Noch ein Positionswechsel und du drohst, zusammenzubrechen.  

Also steckst du fest. In der unangenehmsten Position überhaupt. Mitten auf der bunten Matte. Und der einzige Gedanke, der kommt, ist: Wieso kann ich als einzige oder einziger nicht weiter? Was mache ich falsch?  

weiße Buchstaben DON´T PANIC auf rosa Hintergrund
Trauer kann sich manchmal wie eine Partie Twister anfühlen. Das ist in Ordnung. Dein Leben, deine Trauer! (Unsplash/Tonic)

Lass dir das Wasser nicht über den Kopf steigen

Für eine produktivere Auseinandersetzung mit der Trauerentwicklung ziehen heutzutage Psycholog:innen also andere Modelle heran. Berühmt wurde der US-amerikanische Psychologe und Trauerforscher George A. Bonanno, der das Phasenmodell ebenfalls hinterfragte und erstmals empirische Studien mit Hinterbliebenen durchführte. Was er herausfand war revolutionär – und wurde lange Zeit von der Fachwelt ignoriert. 

Bonano stellte drei Muster fest: Zehn Prozent der Menschen kämpfen nach einem tragischen Todesfall mehrere Jahre mit Depressionen und erholen sich kaum. 20 Prozent trauern ein halbes Jahr schwer, dann beginnen sie sich zu erholen und finden wieder ins Leben zurück. Mehr als zwei Drittel aber funktionieren schon nach wenigen Wochen wieder normal, zum Teil schon nach Tagen. „Normal“ bedeutet: Sie bewältigen ihren Alltag, gehen zur Arbeit und widmen sich der Familie und Freunden. Es gelingt ihnen, die Trauer beiseite zu schieben.

…sondern von den Wellen tragen

In diesem Zusammenhang wird auch oft das „Wellenmodell“ ins Spiel gebracht. Wie der Name des Modells verrät, verläuft hier die Trauer in wellenartigen, oft auch unregelmäßigen Schüben. Dabei wird der oder die Trauernde also so etwas wie eine Küste, die immer wieder von Flut und Ebbe bearbeitet wird, wobei die Regelmäßigkeit der Flut nicht vom Mond abhängig ist, sondern von den Betroffenen selbst.   

Ziel des Wellenmodells ist es, Trauernde dabei zu unterstützen, die Wellen nicht zu verteufeln. Nicht darauf zu warten, bis die abebben, sondern sie kommen und gehen zu lassen. Auch wenn das bedeutet, hin und wieder abtauchen zu müssen. Nur das Auftauchen darf man dabei halt nicht vergessen. Und wer weiß, vielleicht lernst du sogar, irgendwann auf den Wellen zu surfen.  

Surfer in Welle
Hui, nicht alle Wellen sind leicht zu reiten. Na und? Wenn es mal nicht ganz so klappt, einfach auftauchen, durchatmen und nochmal probieren. (Foto: Unsplash/Jeremy Bishop)

Im Duett mit der Trauer 

Heute gilt das sogenannte „Duale Prozessmodell der Trauerbewältigung“ (DPM) international als der letzte Stand der Trauerforschung. Das Modell – von Margaret Stroebe und Henk Schut 2010 in den Niederlanden entwickelt – besagt, dass ein Verlust Stress auslösen kann. Dabei gibt es zwei Bereiche von „Stressoren“, also von Auslösern von Stress, die sich gegenseitig beeinflussen und unterstützen: Verlust und Wiederherstellung.  

Je nach Pol, dem man sich gerade eher zuwendet, führt man verschiedene Tätigkeiten aus und hat bestimmte Gefühle 

  • Verlust: Trauern, Weinen, Erinnerungen pflegen, Besuchen des Grabes, Sortieren von persönlichen Gegenständen 
  • Wiederherstellung: Neue Rollen und Identitäten entwickeln, Alltag bewältigen, neue Hobbies und Beziehungen pflegen 

Das duale Prozessmodell betont, dass Menschen im Trauerprozess ständig zwischen diesen beiden Bereichen hin- und herwechseln und bezieht die vielfältigen (und oft widersprüchlichen) Gefühle mit ein. Damit die Trauer ein natürlicher und flexibler Teil des Lebens wird.  

Zwei Männer singen
Traueralltag: Manchmal weinen wir, manchmal rocken wir das Leben! (Foto: Pexels/Aleksandr Neplokhov)

In der Praxis hat sich laut Heidi Müller gezeigt, dass dieses Modell Betroffene dabei unterstützt, ihre Trauer besser zu verstehen und zu bewältigen. Es ist besonders nützlich, da es den Trauernden erlaubt, ihre Erfahrungen als normal zu verstehen und Auslöser für Trauerepisoden (sogenannte „Stressoren“) bestimmen zu können.  

Und das, ohne das Gefühl zu haben, in festen Phasen stecken zu bleiben, oder sich in die nächste katapultieren zu müssen. So eine Herangehensweise ist laut Expert:innen besonders wichtig in einer Leistungsgesellschaft, in der oft schnelle Lösungen und Fortschritte erwartet werden.  

Pokemon Figur Evoli im Wald
Du bist kein Pokémon, das nur dann erfolgreich ist, wenn es sich ins nächste Level katapultiert. Du musst nicht in Stufen denken und dich unter Druck setzen lassen. Wie dieses Evoli hat deine Trauer mehrere Möglichkeiten, sich ganz natürlich zu entwickeln. (Foto: Unsplash/Connor Dickson)

Auf der nächsten Seite erfährst du, ob man auch „zu lange“ trauern kann und was du tun kannst, um deinen Trauerprozess selbstbestimmt zu gestalten.

Über die Serie

Oh nein, nächstes Tabuthema auf Kollisionskurs! Als ob Krebs nicht ausreicht. Machen wir uns nichts vor: Krebs wird direkt mit Sterben, Tod und Trauer in Verbindung gebracht, auch wenn viele Krebserkrankungen gar nicht tödlich sind. Geht’s doch schließlich ums Abschiednehmen, das alte Leben loslassen.

Wer uns kennt, weiß, dass wir alles locker, aber nichts auf die leichte Schulter nehmen. Schon gar nicht das Lebensende. Scheiden tut weh, keine Frage, und den Löffel abzugeben ist nicht lustig, aber wer zuletzt lacht, soll am besten lachen. Lass uns gemeinsam ins Gras beißen! Wie, das erfährst du in dieser Serie.

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