Soloaufritt – Wie Nils dem Krebs die Bühne stiehlt
Nils’ Leben liest sich wie ein Drehbuch für einen Film, in dem das Schicksal seinen Sinn für Humor unter Beweis stellt. Mit Nils in der Hauptrolle, dem Krebs als nervigem Nebendarsteller und der Einsamkeit als Statistin, die ständig durchs Bild läuft. Wie er aus der Situation Stärke zieht.
Wie geht man mit einem Drehbuch um, das man nicht selbst geschrieben hat? Diese Kunst zeigt uns Nils – indem er die Kontrolle übernimmt und das Narrativ ändert.
Mit einer bemerkenswerten Leichtigkeit navigiert er durch die schwindelerregenden Höhen und erdrückenden Abgründe seines persönlichen Films, frei nach dem Motto „Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach Limonade draus, und wenn es dir Krebs gibt, mach … naja, irgendwas Cooles draus.“
Hinter den Kulissen
Aber zurück zum (Film-)Start: Für Nils sind Hautuntersuchungen durch seine Neigung zu Nävi so normal wie das morgendliche Kämmen seiner Haare: „Für mich war der Gang zur Ärztin wie die halbjährliche Untersuchung beim Zahnarzt.“ Nur ohne die kostenlose Zahnbürste am Ende.
Nävi sind harmlose Hautwucherungen, also Muttermale oder Leberflecke. Sie können verschiedene Formen und Farben haben – und während die meisten ungefährlich sind, sollten Veränderungen oder ungewöhnliche Merkmale von einem:einer Dermatolog:in überprüft werden.
Normalerweise bleibt die Untersuchung unspektakulär. Aber nicht im März 2019. Denn ein Muttermal auf seinem linken Bein mit veränderter Form und Farbe lässt Nils schon Böses ahnen. „Ich habe der Dermatologin die Worte praktisch in den Mund gelegt und gefragt: ‚Ich habe Krebs, oder?’“
Die Antwort ist ein Schlag ins Gesicht: Malignes Melanom, Stadium 3C, Metastasen in den Lymphknoten, der Leiste und eine verkapselte in der Lunge. Eine Bindegewebskapsel umwebt hier also die Krebszellen, wodurch eine Ausbreitung potenziell eingeschränkt werden kann. „Reicht ja auch, das ist kein Wettbewerb. Man muss ja nicht unbedingt die 4 und damit das Endstadium erreichen“, witzelt Nils. Die Diagnose reißt ihm aber trotzdem erstmal den Boden unter den Füßen weg.
Stärke ohne Drehpause
Verdrängung wird sein Mittel der Wahl, eine fragwürdige Freundin in dieser Situation. Nils hört nicht auf seinen Körper, arbeitet weiterhin Vollzeit und lässt sich lediglich an Infusionstagen krankschreiben. Sein Drehbuch lässt ihm kaum eine Verschnaufpause.
Damit will Nils Normalität simulieren, bis ihm bei seiner ersten von drei Rehabilitationen klar wird, dass seine Methode nicht die richtige ist. „Das war völlig verkehrt. Ich habe meine körperlichen Bedürfnisse absolut ignoriert.“
Nils reflektiert, dass das vor allem für Männer so ein gesellschaftliches Ding ist, keine Schwäche zu zeigen. „Das zuzugeben ist eine ganz große Überwindung, weil man die starke Persönlichkeit spielen möchte.“
Kulissenwechsel und Auftritt der Einsamkeit
Um zu verstehen, warum unsere Hauptperson ohne zu zögern in die Vollzeit zurückgekehrt ist, ist eine kleine Rückblende nötig. Schon früh schwamm Nils gegen den Strom: Zuerst mittlere Reife, dann doch Abitur, mit dem Wunsch zu studieren. Romanistik ist der Plan, denn dass er einmal in der Pflege landen würde, war so wahrscheinlich wie ein vegetarischer Metzger. „Um Gottes Willen, niemals würde ich das machen“, hatte er geschworen. Aber das Schicksal führte ihn zu einer anderen Rolle.
Nachdem die Lust für das Studium und die französische Sprache langsam schwindet, entscheidet sich Nils für ein freiwilliges Jahr in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung – und findet seine Berufung: „Da habe ich mich wiedergefunden“, sagt er und erinnert sich an die Wertschätzung, die ihm entgegengebracht wurde.
So entscheidet sich Nils dazu, in der Pflege Fuß zu fassen und stapft selbstbewusst in die Ausbildung zum Heilerziehungspfleger. Danach zieht es ihn zurück nach Hamburg, in die Einsamkeit einer eigenen Wohnung – ein Kulissenwechsel, der schwerer wiegt als erwartet. Statt buntem WG-Leben mit familiärer Atmosphäre ist er jetzt allein in einer Wohnung, wo die Stille zu laut wirkt. In eigenen Worten: „Einfach scheiße. Ich habe mich richtig einsam gefühlt.“
Komplette Isolation erlebt Theresa während ihrer Diagnose. Wie sie mit der Einsamkeit umgeht, kannst du hier nachlesen.
Schwenk ins Jetzt: Allein im Rampenlicht
Wie in einem abendfüllenden Blockbuster nimmt die Handlung von Nils’ Leben eine unerwartete Wendung. Nachdem die Probezeit endet, erscheint die Diagnose wie ein plötzlicher Plot Twist und die Einsamkeit nagt an ihm. Besonders das Fehlen eines Partners belastet ihn: „Einfach jemanden zu haben, der mich auffängt“, wünscht er sich.
Trotz der Unterstützung seiner Freund:innen fühlte sich Nils nämlich allein, ein Gefühl, das schwer in Worte zu fassen ist, wenn man rational weiß, dass Menschen da sind, die helfen würden.
Doch diese Einsamkeit, so bitter sie auch schmeckt, hat auch ihre Süße. „Natürlich habe ich auch geweint zu Hause oder mir die Frage gestellt: ‚Warum ich?‘“ Aber das Alleinsein lehrt Nils eine besondere Art von Stärke. Er lernt sich selbst besser kennen und steht selbstbewusst im Rampenlicht der Bühne des Lebens.
In seinen Worten: “Ich bin Nils und ich stehe auf der Bühne, nicht der Krebs. Der Krebs ist ein Anhang, den schleppe ich mit auf die Bühne und der sitzt dann aber abseits irgendwo auf einem Hocker und flüstert mir vielleicht als Souffleuse mal ins Ohr. Aber ich mache das Programm.”
In gewisser Weise hat ihn der fehlende Partner sogar gezwungen, für sich selbst stark zu sein. „Ich glaube, ich hätte diese Stärke daraus nicht so gezogen, wenn ich einen Partner an meiner Seite gehabt hätte“, reflektiert er.
Auf der nächsten Seite erfährst du, wie Nils die Kontrolle über sein Drehbuch übernehmen konnte.
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Über die Serie
Jeder Mensch hat zwei Leben. Das zweite beginnt dann, wenn du realisierst, dass du nur ein Leben hast, und die Welt sich anders anfühlt. Durch den massiven Eingriff von Krebs & Co findet ein Sinneswandel statt. Falls dein Lebensweg bisher an Sinn vermissen ließ, wird das im Angesicht der Endlichkeit furchtbar klar.
Die Sinneswandel-Serie beschäftigt mit der Vielfalt an Bewältigungsstrategien, die Krebspatient:innen entwickeln, um mit all den weitreichenden Veränderungen umzugehen. Coping ist eine Kunst, und Kunst sensibilisiert die Sinne. Durch unsere Community wissen wir: Manche haben besonders kreative und authentische Ansätze gefunden. Sie haben inspirierende Geschichten gelebt, Prüfungen bestanden, schwere Entscheidungen getroffen – und wir entnehmen die Essenz dieser Lebenswege und gießen sie in tieftauchende Porträts.