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Reichhaltige Trauerkultur von Aberglaube zu Klageweibern
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Trauern dahoam: Wie und warum Europa trauert

Europa trauert tendenziell privat. Nichtsdestotrotz haben wir einige jahrhundertealte und kuriose Trauereigenheiten entwickelt. Wir sagen dir, wie sie entstanden sind, warum wir so trauern und was es sonst noch gibt.

Europäisches Trauersammelsurium 

Albanien – ist anders 

Albanien ist ein wenig anders. Muslimische Minderheit in Europa, unzugängliche Landschaft, relativ isoliert über Jahrzehnte – das führt zwangsläufig zu anderen Traditionen. Hier ein paar ausgewählte Andersartigkeiten (die eher in ländlicheren Gegenden praktiziert werden):  

    • Manche Albaner:innen legen ein Holzkreuz auf das Grab des:der Toten, weil es davor schützen soll, dass er:sie sich in einen Vampir verwandelt.  
    • Die Folklore besagt, dass es bis vor kurzem im albanischen Hinterland Brauch war, den Schmerz der verstorbenen Person nachzuempfinden, indem man sich die Haare schnitt oder ausriss, die Kleidung verkehrtherum trug, sich selbst verletzte, und dabei heftig weinte. 
    • Beim Abschiedsritual setzen die Albaner:innen den Leichnam aufrecht in einen Stuhl, damit ihn auch jede:r im Raum sehen kann. 

Polen – laute Nachrufe

Traditionell sind Nachrufe in Polen Big Business. Neben der Todesankündigung hängt man an die Tür des betroffenen Haushalts kleine Kreuze, Heiligenbilder, schwarze Schleifen, Birkenzweige und Goldschmuckstücke.

Viele Männer bei einem Albanischen Trauertanz.
Die Albaner:innen haben so viele Trauerrituale, bei diesem sind auch wir überfragt. (Foto: Wikimedia Commons/Reiner Schulz)

Island – ein Heidenspaß 

Die Skandinavier:innen sind nicht gerade bekannt dafür, folgsame Christ:innen zu sein. Das zeigt sich unter anderem am Beispiel Island, wo die am schnellsten wachsende Religion das naturverbundene Heidentum ist. 

Damit einher gehen von der christlichen Norm abweichende Trauerrituale. In diesem Fall nennt es sich „Asatru“. Draußen, in der windigen Vulkanlandschaft Islands, führt statt einem Priester ein Gothi (heidnische Autorität, die für religiöse Struktur und Brauchtum verantwortlich ist) die Bestattung durch. Statt aus der Bibel, liest er aus der Edda (Sammlung alter nordischer Gedichte).

Auf dem Sarg des:der Verstorbenen ist das Zeichen seiner:ihrer Lieblingsgottheit gemalt. Mit ins Grab legt man allerlei Lieblingszeug, manchmal sogar die Haustiere. Wir hoffen nicht lebend. 

Isländische Landschaft
Es macht schon Sinn, dass gerade in der wunderschönen Natur Islands der naturverbundene Heidenkult wieder auftaucht. (Foto: Pexels/Rudolf Kirchner)

Schottland – die Trauer wegsaufen 

Auf den ersten Blick unterschieden sich Trauerrituale im hohen Norden von Großbritannien nicht allzu stark von jenen auf dem Festland. Die Uhren wurden angehalten, Spiegel abgedeckt, Fenster geöffnet und die Katze verjagt, weil man befürchtete, dass ein Katzensprung über die Leiche die Flucht des Geistes stören würde und die nächste katzensichtende Person dann erblinden würde.  

Alles stinknormaler Aberglaube. Der Unterschied beginnt erst mit dem Begrüßen der Trauergäste: “Oh, hello darling, hier bitte, ein Stamperl Whisky und etwas Tabak. Oh, good day, glad you could make it, Mr. McDonald. Ja, richtig schade um den alten Gareth, indeed. Ein bisschen Whisky, um klarzukommen?”

Bis alle eintrafen und sich der Trupp endlich auf den Weg zum Friedhof machen konnte, waren die meisten schon längst sturzbesoffen. Es gibt viele schottische Sagen darüber, wie Leichen unterwegs verloren gingen, oder man generell vergaß, die alten Weggefährten überhaupt zu beerdigen. Hach, das waren noch Zeiten. 

Klageweiber – Agentinnen des Todes 

Der krönende Abschluss: die Klageweiber. Eine jahrtausendealte Tradition, die beinah ausgestorben ist, sich aber noch hartnäckig an Orten wie Rumänien, Bosnien oder Griechenland hält. Oberflächlich gesehen ist es nichts anderes als gewerbsmäßiges Trauern gegen Honorar. Schaut man aber unter den Kulturteppich, entdeckt man, dass Klageweiber eine wichtige und komplexe Rolle spielen. Ja, sie trauern um Leute, die sie nie gekannt haben. Trotzdem bringen sie die Trauergesellschaft einander näher. 

Denn sie normalisieren Trauer, befähigen jene, die sich schwertun, diese Gefühle zuzulassen, indem sie Klagelieder – sogenannte Schicksalslieder – singen, die teils improvisiert sind und auf Chöre alter antiker Tragödien zurückgehen. Bei Klageweibern handelt es sich immer um Frauen, da traditionellerweise die Männer stark sein und sich solch rohe Emotionen wie Trauer nicht anmerken lassen sollen.

Alte Zeichnung einer Trauergesellschaft.
Ob Klageweiber gut bezahlt werden? (Foto: Wikimedia Commons/Cornelis De Bruijn)

Trauer ist mehr als ihre Rituale 

Und damit wären wir wieder bei der Ritualisierung der Trauer angelangt, dem Rahmen, in dem sie sich aufhält, um ihren tolerierten Platz in der Gesellschaft zu finden. Ja, Trauerrituale sind wichtig, und kulturell wertvoll. Aber unserer Meinung nach sollte die Trauer keinem zeitlichen Rahmen unterliegen.

Trauer ist individuell und verläuft in unvorhersehbaren Bahnen. Wenn sie raus muss, muss sie raus. Wenn du heulen musst, heule. Auch wenn es in der Geflügelabteilung ist und der Nachbar blöd schaut. 

Über die Serie

Oh nein, nächstes Tabuthema auf Kollisionskurs! Als ob Krebs nicht ausreicht. Machen wir uns nichts vor: Krebs wird direkt mit Sterben, Tod und Trauer in Verbindung gebracht, auch wenn viele Krebserkrankungen gar nicht tödlich sind. Geht’s doch schließlich ums Abschiednehmen, das alte Leben loslassen.

Wer uns kennt, weiß, dass wir alles locker, aber nichts auf die leichte Schulter nehmen. Schon gar nicht das Lebensende. Scheiden tut weh, keine Frage, und den Löffel abzugeben ist nicht lustig, aber wer zuletzt lacht, soll am besten lachen. Lass uns gemeinsam ins Gras beißen! Wie, das erfährst du in dieser Serie.

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