Wissen wollen, wie es ausgeht. Ein Sterbender erzählt
Seit vier Jahren lebt Matthias mit unheilbarem Lungenkrebs. Jetzt wirken die Medikamente nicht mehr. Der Tod klopft auf die Schulter. Worauf kommt es am Lebensende an? Wie dem Sterben begegnen? Wie die Hoffnung behalten?
Matthias trägt Jogginghose. Er sitzt auf der Wohnzimmercouch. Auf dem Tisch ein Glas Orangensaft, Taschentücher, eine Kerze. Die hohen Fenster fluten den Raum mit Licht. Die Wohnung ist übers Internet angemietet, damit er der Familie nah sein kann. Vor dem Fenster ist ein Fußballplatz. Von der benachbarten Schule sind spielende Kinder zu hören. Matthias ist 36. Er hat Lungenkrebs. Und nicht mehr lange zu leben.
Zu viele Metastasen, um sie zu zählen
Matthias ist 32, als er die Diagnose erhält: nicht kleinzelliges Bronchoskarzinom. NSCLC ist die Abkürzung dafür. In seinem Körper sind unzählige Metastasen. In Leber, Hirn, Knochen. Unheilbar. Er hat aber auch etwas Glück. Sein Lungenkrebs hat eine sogenannte „Treibermutation“. Der Krebs ist „ALK-positiv“, erklärt Matthias. Für diese genetische Besonderheit gibt es spezielle Medikamente. Sie wirken gezielt gegen die Tumorzellen in Matthias’ Körper. „Tyrosin-Kinase-Inhibitoren“ werden sie genannt.
Das nicht-kleinzellige Bronchialkarzinom (NSCLC) ist die häufigste aller Lungenkrebsarten (80-85 %). Eine Unterform ist der ALK-positive nicht-kleinzellige Lungenkrebs (3-5 %). Er entsteht durch eine Veränderung am ALK-Gen (Treibermutation) und tritt häufig bei Menschen mit Adenokarzinom, bei jüngeren Menschen und bei Frauen auf, sowie bei Menschen, die Nie- oder Nichtraucher sind.
Ruhig und sachlich spricht Matthias über seine Krebserkrankung. Woher das kommt? „Wenn man als Mediziner hört, dass Lebermetastasen da sind, ist das meist ein schlechtes Zeichen“, sagt er. Matthias ist Arzt. Er hat selbst viele schwerkranke Patient:innen betreut. Krebs ist nichts Neues für ihn. „In der Leber waren so viele Metastasen, dass sie nie jemand anzahlmäßig beschrieben hat“, erzählt er. „Ich hatte das Gefühl, das Leben ist vorbei.“
Nach der Diagnose beendet Matthias die kurze Karriere als Mediziner. Seither ist er in Invaliditätspension, er erhält die gezielte Medikamententherapie. „Anfangs hat sich alles zurückgebildet. Es war ein Wunder, dass die Medikamente so gut wirkten, mit wenig Nebenwirkungen.“
Lese-Tipp: Nicht nur bei Lungenkrebs gibt es gezielte Therapien, auch bei anderen Tumorarten: Therapierelevante Mutationen. Brustkrebs – I will be watching you, b****!
Sterben, Leben, Sterben, Leben usw.
Die hochmodernen Medikamente retten Matthias das Leben. Zweieinhalb Jahre ruht die Krankheit. Er studiert Russisch auf der Uni und engagiert sich politisch zur Europawahl 2019. „Das hat mir großen Spaß gemacht, weil anderen Menschen diese Möglichkeiten nicht offen stehen, weil sie täglich dem Geld nachlaufen müssen.“
Es tauchen neue Lebermetastasen auf. Sie werden bestrahlt. Matthias bekommt ein neues Medikament, der Wirkstoff ist auch wieder ein Tyrosinkinaseinhibitor. Ein dreiviertel Jahr später sind abermals Metastasen im Gehirn. Neuerlich wird das Medikament gewechselt. Es ist das stärkste bisher. „Ich hatte gehofft, ein paar Jahre Ruhe zu haben.“ Die dritte gezielte Therapie wirkt nur wenige Monate. Unzählige neue Lebermetastasen wachsen. Matthias erzählt von immensen Schmerzen. Das Hin und Her zwischen Hoffnung auf Leben und Vorbereiten auf das Sterben belastet zusätzlich.
Die letzte Therapie?
Er erhält eine Immuntherapie, kombiniert mit Chemotherapie. „Das hätte von den Blutwerten her passen können“, sagt Matthias, „aber leider hat die Kombitherapie nichts verbessert.“ Die Tumoren wachsen weiter. Erneut bekommt er das allererste Medikament. „Wir wissen, dass es nicht mehr vollständig wirkt, aber es scheint die Erkrankung aufzuhalten, jedenfalls besser als die Chemo.“ Matthias hofft, damit etwas Zeit zu gewinnen.
Lese-Tipp: Was will ich vor dem Tod erledigt haben? Worum möchte ich mich noch kümmern? Der letzte Weg. Wie kann ich mich auf das Sterben vorbereiten?
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Über die Serie
Stark sein? Runterschlucken? Das Schicksal ertragen? Wir von Kurvenkratzer bekommen latenten Brechreiz, wenn wir derartige Sprüche hören. Und warum flüstern wir, wenn wir über Krebs reden? Ja, Krebs ist in unserer Gesellschaft leider noch immer ein Tabu. Studien zufolge trifft aber jeden zweiten Menschen im Laufe seines Lebens eine Krebserkrankung. Krebs ist also alles andere als eine gesellschaftliche Nische.
In unseren Interviews sprechen wir mit Menschen, die Krebs am eigenen Leib erfahren haben oder nahe Betroffene sind. Wir reden mit ihnen über den Schock, den Schmerz, Hilfe zur Selbsthilfe, Humor und Sexualität, sowie darüber, wie es gelingt, Mut und Hoffnung zu finden. Damit möchten wir dich motivieren: Wenn du das Gefühl hast, über deine Erkrankung sprechen zu wollen, dann tu es. Du bist nicht allein.