Vorsorgen statt reparieren: Wie Hirnschmalz das Gesundheitswesen entlastet
Das Gesundheitswesen geht zur Darmspiegelung und trifft dort den Experten Jens Ulrich Rüffer, mit dem es sich über Prävention unterhält. Es findet heraus, wie man das Gesundheitssystem entlasten könnte. Nämlich, indem man die Bevölkerung besser über ihre Gesundheit aufklärt.
Wissen ist Vorsorge
“Weißt du, ich frage mich in letzter Zeit, ob ich – äääh – ich meine ob das Gesundheitssystem zu kurzsichtig agiert. Ich habe gelesen, dass 97,5% des deutschen Gesundheitsbudgets ins Krankheitsmanagement fließt und nur 2,5% in die Vorsorge und Früherkennung. Stimmt das?“
“Ja, das stimmt. Aber momentan können wir in Deutschland einiges an Umdenken verzeichnen. Gerade wird ein großes Institut zur Prävention und Gesundheitsvorsorge gegründet. Es gibt auch ganz spezifische Aktivitäten, wie zum Beispiel die Früherkennung von Lungenkrebs, die lange Zeit nicht betrieben worden ist. Das alles muss aber Hand in Hand gehen mit einem anderen Gesundheitsverständnis in der Bevölkerung und ganz spezifisch mit Gesundheitskompetenz”.
Aha. Gesundheitskompetenz. Vielleicht ist das das Stichwort.
Was zum Teufel ist Gesundheitskompetenz?
„Gesundheitskompetenz“ ist ein relativ technischer Begriff, der die Fähigkeit beschreibt, Gesundheitsinformationen zu verstehen, zu bewerten, anzuwenden und fundierte Entscheidungen im Zusammenhang mit deiner Gesundheit zu treffen.
“Interessant. Erzähl mir mehr. Weißt du, ich versuche herauszufinden, wie man von Sickcare zu Healthcare kommt”.
Die Augen einer älteren, angefressenen Dame lassen mich nicht los. Wer sagt, dass man in Warteräumen immer leise sein muss? Das ist ja keine Bibliothek. Jens bemerkt es auch und redet leiser.
“Ich glaube, viele realisieren gerade, dass es um die Gesundheitskompetenz in Deutschland nicht gut bestellt ist. Eine Studie der Uni Hannover hat ergeben, dass wir im hinteren Mittelfeld in Europa liegen. Deswegen weiß man jetzt: Auf dem aktuellen Stand können wir nicht bleiben. Denn wenn die Leute nicht gesundheitskompetent sind, erreicht man sie natürlich schwerlich. Die große Herausforderung ist, dass sie die ganzen Maßnahmen, die mit Gesundheitsvorsorge einhergehen, dann tatsächlich auch leben und umsetzen können.”
Ja, etwas muss sich verändern. ICH muss mich verändern.
“Und wie machen wir die Menschen gesundheitskompetenter?” Ich glotze ihn übereifrig an. Habe ich einen Mitstreiter gefunden?
Schert Desischn Mähking (Shared Decision Making)
“Naja, zum einen durch Shared Decision Making – also gemeinsamer Entscheidungsfindung – das ist mein Steckenpferd. Es geht darum, Patient:innen über die verschiedenen Therapiemöglichkeiten und Folgen ihrer Entscheidungen so gut aufzuklären, dass sie dann wissen ‘Ja, mache ich‘, oder ‘Nein, mache ich eben nicht’. Wenn man das tut, sieht man, die Handlungsabläufe werden besser, alles wird schneller und für den:die Patient:in angenehmer und das Bedauern einer Entscheidung in Unwissenheit existiert praktisch nicht mehr.”
“Heißt das, der:die Patient:in ist eigentlich die wichtigste Ressource im gesamten System?”
“Genau. Wir würden eine Menge Ressourcen sparen. In den Untersuchungen, die wir mit Shared Decision Making (SDM) gemacht haben, konnten wir 10% der Kosten einsparen. Nimmt man das gesamte Gesundheitsbudget von 400 Milliarden, würden wir 40 Milliarden einsparen. Wir konnten außerdem beweisen, dass Menschen, die gemeinsame Therapieentscheidungen gemacht haben, im nächsten Jahr 10% weniger Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen mussten. Also das Ziel, dass alle gesünder werden, ist natürlich ein ganz wichtiges. Aber die Patient:innen müssen so aufgeklärt sein, dass sie wissen, welche Leistungen ihnen etwas bringen und welche nicht.“
“Woooow.” Meine Stimme überschlägt sich. Die wütende Frau deutet uns mit einem boshaften “Pssst”, dass wir gefälligst leiser sein sollen. Ich flüstere weiter.
“Also Prävention bedeutet langfristig Kosteneinsparung. Okay, verstanden.”
“Wenn wir Menschen [als Ärzt:innen] nicht ernst nehmen und ihnen die Selbstverantwortung entziehen, dann werden wir den Turnaround nicht schaffen. Ich glaube, da liegt letzten Endes eigentlich der Hebel, wo wir sehr, sehr wirksam sein können. “
Die Narkoseträume des Gesundheitswesens
Jens redet und redet, während ich alles wie ein Schwamm aufsauge. Bis plötzlich: “Das Gesundheitswesen bitte!” Eine Stimme, die nach Arzt klingt, ruft mich zur Darmspiegelung, die ich schon fast vergessen hatte. Schluck.
“Viel Glück”, ermutigt mich Jens.
“Hat mich gefreut. Du hast mir wirklich geholfen“, erwidere ich.
Auf der nächsten Seite gehe ich auf einen Spaziergang, der mir in Sachen Prävention klar macht, was noch getan werden muss.
Über die Serie
Stell dir vor, das Gesundheitswesen ist ein echtes Wesen. Es atmet, isst, trinkt, verdaut, fühlt. Und wenn es lange überlastet ist, funktioniert es nicht mehr wie sonst. In dieser Serie passiert genau das: Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und muss eine Auszeit nehmen. „Den Auslösern auf den Grund gehen“, wie die Psychologin sagt.
In 20 Tagebucheinträgen beschäftigt es sich mit sich selbst – und deckt nach und nach Probleme, Erfolge und Möglichkeiten auf. Dazu spricht das Gesundheitswesen mit allerlei Fachleuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz übers Bettenfahrern, die Pflegekrise oder Themen wie Föderalismus und Digitalisierung. Am Ende entsteht ein Gesamtbild der aktuellen Herausforderungen im System.