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Das Gesundheitswesen schreibt Tagebuch
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Vorsorgen statt reparieren: Wie Hirnschmalz das Gesundheitswesen entlastet

Das Gesundheitswesen geht zur Darmspiegelung und trifft dort den Experten Jens Ulrich Rüffer, mit dem es sich über Prävention unterhält. Es findet heraus, wie man das Gesundheitssystem entlasten könnte. Nämlich, indem man die Bevölkerung besser über ihre Gesundheit aufklärt.

Ich ziehe mich aus, während ich mir Jens’ Worte nochmal durch den Kopf gehen lasse. 

So ist das also. Gesundheitskompetenz ist das Stichwort. Bei den Patient:innen anfangen. Sie ernst nehmen und informieren. Das klingt logisch. Wieso habe ich da nicht schon früher dran gedacht? 

Meine bloßen Füße heben sich vom kalten Praxisboden ab, als ich mich seitlich auf die Liege lege. 

Alles weitere möchte ich dir, liebes Tagebuch, wirklich ersparen. Aber viel weiß ich sowieso nicht mehr, denn ich hatte mich für das bewährte Betäubungsmittel Propofol entschieden. Der Arzt meinte nur: “Denke einfach an etwas Schönes und schlafe ruhig ein”. Also träumte ich von einer Welt voller gesundheitskompetenter Menschen, während sich der Schlauch seinen Weg in mein Innerstes bahnte.  

Im Endeffekt alles halb so schlimm. Als ich aufgewacht bin, war schon alles vorbei und ich noch ein wenig benebelt. Immerhin, das Wetter draußen spiegelte meinen Zustand wider.  

Präventionsspaziergang 

Auf dem Heimweg bin ich dann an einer Schule vorbeigekommen. Wieso nicht einfach Schulfächer einführen, die verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen Gesundheit beibringen. Früh übt sich, richtig? Da lichtete sich der Nebel und mir kamen wieder Jens’ Worte wieder in den Sinn: “Die aktuelle Diskussion läuft daraus hinauf, dass es sinnvoll wäre, zusätzliche Fächer zu schaffen und sie in irgendeiner Weise mit Natur- und Sozialwissenschaften zu verbinden.” 

Gut. Dann sind wir ja am rechten Weg. Dementsprechend biege ich rechts ab und spiegle mich im Schaufenster einer Fleischerei. Hmmm, verarbeitetes Fleisch: einer der Hauptverursacher von Krebs, wenn man zu viel davon isst. Sollte man nicht viel radikaler sein und bestimmte, nachweisbar ungesunde Lebensmittel verbieten? Jens hat sich darüber ein wenig aufgeregt.  

“Wie schwer tun wir uns mit einer Ampelkennzeichnung von Lebensmitteln, die uns zeigt, welche gesund sind und welche nicht? Das ist doch ein Witz. Schon mit dem Rauchen hat es ewig gedauert. Oder Beispiel Italien, die ein Gesetz beschlossen haben, künstliche Lebensmittel zu verbieten. Das zeigt: Es geht, es geht, es geht.” 

Gleich neben dem Metzger ein großes Plakat. Darauf ein etwa 14-jähriges Mädchen in einem Hoodie. “Mein bester Schutz vor Gebärmutterhalskrebs: Die HPV-Impfung.” Ich weiß, dass die HPV-Impfrate zurückgeht. Das ist wohl der Verbreitung von alternativen Fakten in den asozialen Medien zuzuschreiben. Aber diesem Plakat ist das anscheinend egal. Was hat Jens nochmal gesagt?  

“Also aus meiner Sicht kommuniziert die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung an der Zielgruppe vorbei. Man muss sich daran orientieren, was die Leute bewegt und sie abhält und dann ihre Ängste adressieren. Sonst wird viel Geld in die Hand genommen, ohne sich im Klaren zu sein, was man überhaupt erreichen will. Ich finde das ist alles noch sehr, sehr brav.”  

Eine Ampel
Eine Ampel, um den Nährwert von Lebensmitteln zu kennzeichnen? Yes, please! (Illustration: Lena Kalinka)

“Negativer Befund”, erfahre ich Tage später. Das habe ich auch gleich meiner Therapeutin mitgeteilt. Die wusste mit der Information nicht viel anzufangen. “Was ich wissen will, ist: Haben Sie sich selbst vergeben?”  

“Naja, schon irgendwie, in dem Moment, wo ich aktiv etwas unternommen und mich informiert habe. Ich fühle mich kompetenter und traue mir wieder mehr Verantwortung zu. Zuerst für mich selbst, dann für andere.” 

Das Pulverfass der Armutsfalle Krebs 

Um mir das auch zu beweisen, bin ich gleich nach der Sitzung zum Gartencenter und habe mir Pflegeutensilien für meinen geliebten Bonsai zugelegt. Bevor ich einen kranken Bonsai manage, sorge ich doch lieber gleich vor. Das nenn ich Verantwortung! Und während ich nach dem Spray gegen Ungeziefer suche, taucht neben mir eine Frau mit einer Artischockenblüte in der Hand auf.  

Auf dem Kopf trägt sie eine Mütze mit der Aufschrift “leukaemut”. Sie erzählt mir, dass sie Krebs hat. Und dass ihr unlängst das Arbeitslosengeld gestrichen wurde, weil sie während der Therapie im Krankenhaus war und nicht antworten konnte. Mein Kopf läuft rot an. Was soll das? Krebskranke Menschen, die sich, statt aufs Gesundwerden zu konzentrieren, mit Bürokratie und finanziellen Sorgen herumschlagen müssen? 

Ich stürme aus dem Gartencenter. Es ist Zeit, RICHTIGE Verantwortung zu übernehmen. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wie groß das Fass war, dass sich da vor mir auftat. Ach, liebes Tagebuch – Armut und Krebs sind zusammen ein richtiges Pulverfass. 

Aber das ist eine Geschichte fürs nächste Mal. 

Über die Serie

Stell dir vor, das Gesundheitswesen ist ein echtes Wesen. Es atmet, isst, trinkt, verdaut, fühlt. Und wenn es lange überlastet ist, funktioniert es nicht mehr wie sonst. In dieser Serie passiert genau das: Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und muss eine Auszeit nehmen. „Den Auslösern auf den Grund gehen“, wie die Psychologin sagt.

In 20 Tagebucheinträgen beschäftigt es sich mit sich selbst – und deckt nach und nach Probleme, Erfolge und Möglichkeiten auf. Dazu spricht das Gesundheitswesen mit allerlei Fachleuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz übers Bettenfahrern, die Pflegekrise oder Themen wie Föderalismus und Digitalisierung. Am Ende entsteht ein Gesamtbild der aktuellen Herausforderungen im System.

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