Wie man trotz Krebs durchs Leben tanzt
Schon als Kind hätte Evelyn gern getanzt, was sie dann auch tat – heimlich. Der Mut, vor Publikum zu tanzen, kam erst später. Nach der Krebsdiagnose haben sich ihre Prioritäten verändert. Heute tanzt sie wieder nur für sich.
Eine Krebsdiagnose stellt alles in Frage. Viele wissen nicht mehr, wo oben und unten ist. Wohin mit den Sorgen und wohin mit einer heilen Welt, die so nicht mehr existiert? Auch für Evelyn ist der Moment der Diagnose der Beginn von vielen Fragen und Veränderungen: Als würde sich die Welt einmal umdrehen und dann stehen bleiben. Schlussendlich ist man da „allein mit diesem Körper und diesen Zellen“.
Die Zeit der rosaroten Brille ist vorbei, spürt sie ganz deutlich. Die Illusion von Sicherheit, die Evelyn noch vor diesem Moment verspürt hat, ist fortgeflogen wie ein Blatt bei starkem Herbstwind. Die Person, die sie früher war, gibt es in dieser Form nicht mehr. Auch bei ihrer großen Leidenschaft, dem Tanzen, ist diese Veränderung gegenwärtig.
Ich schwinge das Tanzbein
Aber zurück zum Anfang und der Frage: Wie hat das eigentlich alles begonnen? Sie gibt zu: „Im Tanz liegt eine gewisse Wahrheit – ein Sich-Zeigen“. Dafür war sie im jungen Alter noch nicht bereit. Die anfängliche Schüchternheit hat sich aber schnell gelegt.
Mit Anfang 20 kam dann ganz klassisch der Paartanz dazu, bis dann eines Tages in der Tanzschule ein Flamencokurs ausgeschrieben wurde. Evelyns erster Gedanke? „Super, das kann ich alleine machen!“ Zu Beginn war der Kurs aber alles andere als fun and giggles – trotz spanischer Mutter. Die einzige Motivation zum Weitermachen war, dass der Kurs schon bezahlt war. Und diese kleine Tatsache ist der Beginn einer Reise voller Höhen und Tiefen.
Disziplin, Disziplin, Disziplin
Beim Flamencotanz kommt man ohne Disziplin nicht weit. Die ersten Berührungspunkte mit dem Tanz gehen meist mit Frustration und dem Gedanken „Scheiße, was mache ich da eigentlich?“ einher. Bis irgendwann der Knopf aufgeht – so war es auch bei Evelyn. Plötzlich hat ihr alles super viel Spaß gemacht und unheimlich viel gegeben. Und plötzlich war da auch eine neue Identität: Evelyn, die Flamencotänzerin.
„Nur“ tanzen war ihr aber nicht genug. Irgendwann kam es dazu, dass sie nebenberuflich eigene Kurse gegeben hat. Was das Tanzen in ihr auslöst, kann sie schwer beschreiben. Der Flamenco bewirkt gleich ein buntes Farbenmeer voller Gefühle. Der Tanz kann einerseits pure Verzweiflung auslösen. Die unglaubliche Disziplin und das viele Training können an den Kräften zerren.
Das Gefühl, das aber hängen bleibt, ist ein anderes: Viel stärker als der Ärger und die Verzweiflung sind nämlich die Gedanken: „Ich schaffe es doch“, „ich gebe nicht auf“ und „ich kann das.“ Genau diese Mentalität kam Evelyn bei ihrer Diagnose zugute.
Tanzschritt, Rückschritt, Fortschritt – nach der Diagnose
Die Diagnose kommt während den Vorbereitungen einer Minitour von Evelyns Laien-Flamencogruppe. Die Tänzerinnen haben eine externe Hilfe beauftragt, um eine Choreo mit Flamenco und Elementen aus dem zeitgenössischen Tanz zu kreieren. Einen Monat vor der ersten Aufführung erfährt Evelyn von ihrer Brustkrebsdiagnose. Das ist erstmal ein Schock.
Mit der Diagnose kommen auch regelmäßige Panikattacken. Doch da sind noch die Ziele, die sich Evelyn vor der Diagnose gesteckt hat: Monatelang hat sie sich auf die Tanzauftritte vorbereitet und gefreut. Das will sie nicht einfach so aufgeben. Ihr ist klar: „Ich möchte jetzt nochmal tanzen!“ Und sie denkt: „Was ist, wenn das das letzte Mal ist, dass ich tanzen kann?“ Die OP kann also erst nach den Aufführungen stattfinden. Für den Arzt kein Problem, es steht also fest: Es wird getanzt!
Kurz nach der OP kann sich Evelyn nur eingeschränkt bewegen. Flamenco ist in dem Zustand nicht mehr möglich. Was bleibt, ist die Mentalität des Flamencos, die ihr zu dieser Zeit besonders hilft. Nicht aufgeben. Nach dem Verzweifeln weitermachen. Geradestehen. Fokussiert sein. Wenn sie heute an diese Zeit zurückdenkt, gibt sie zu: „Ich weiß nicht, ob ich das ohne diese Fähigkeiten, die ich durch den Tanz gelernt habe, geschafft hätte.“
Auf der nächsten Seite lernst du die Tanztherapie kennen, genau wie Evelyn nach der Diagnose.
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Über die Serie
Jeder Mensch hat zwei Leben. Das zweite beginnt dann, wenn du realisierst, dass du nur ein Leben hast, und die Welt sich anders anfühlt. Durch den massiven Eingriff von Krebs & Co findet ein Sinneswandel statt. Falls dein Lebensweg bisher an Sinn vermissen ließ, wird das im Angesicht der Endlichkeit furchtbar klar.
Die Sinneswandel-Serie beschäftigt mit der Vielfalt an Bewältigungsstrategien, die Krebspatient:innen entwickeln, um mit all den weitreichenden Veränderungen umzugehen. Coping ist eine Kunst, und Kunst sensibilisiert die Sinne. Durch unsere Community wissen wir: Manche haben besonders kreative und authentische Ansätze gefunden. Sie haben inspirierende Geschichten gelebt, Prüfungen bestanden, schwere Entscheidungen getroffen – und wir entnehmen die Essenz dieser Lebenswege und gießen sie in tieftauchende Porträts.