Wie man trotz Krebs durchs Leben tanzt
Schon als Kind hätte Evelyn gern getanzt, was sie dann auch tat – heimlich. Der Mut, vor Publikum zu tanzen, kam erst später. Nach der Krebsdiagnose haben sich ihre Prioritäten verändert. Heute tanzt sie wieder nur für sich.
Mit den Augen tanzen – Neuentdeckung Tanztherapie
Tanz ist nicht gleich Tanz. Vor der Diagnose war da die Evelyn, die leidenschaftliche Flamencotänzerin war. Die dem Wort Tanz in seiner Bedeutung als Disziplin alle Ehre gemacht hat. Doch plötzlich kommt diese Diagnose und mit ihr die Frage: Was bleibt, wenn ich nur noch ich bin? Auf einige Aspekte der Krankheit konnte sich Evelyn vorbereiten.
Bei anderen Aspekten ist das allerdings schwieriger. „Worauf ich nicht gefasst war, war das Gefühl, dass ich mich so in den Flamenco gestürzt habe und mein ganzes Leben darauf ausgerichtet habe. Jetzt musste ich mich von all dem lösen.“, erklärt Evelyn ihre damalige Situation.
Dieser Prioritätenwandel verändert auch ihr Umfeld. Vor allem aus der Flamenco-Community kommt teilweise Kritik. Andere Tänzerinnen können nicht verstehen, wie Evelyn, die ihnen erklärt hat, wie großartig dieser Tanz ist, plötzlich ohne diesen Sport – ja, ohne diese Leidenschaft! – lebt. Die Antwort kommt ohne großes Zögern: „Ich atme, ich gehe aufs Klo, so kann ich ohne diesen Sport leben.“
Doch nur weil die Ära des Flamencos zu Ende ist, heißt es noch lange nicht, dass die Ära des Tanzes vorbei ist. Als Evelyn in der Reha sieht, dass Tanztherapie angeboten wird, ist sie sofort Feuer und Flamme. Von der Tanztherapeutin werden ihr Tücher in die Hände gedrückt und die Musik aufgedreht. Auf einmal ist da die Möglichkeit zu tanzen – ganz ohne Vorgaben, Strenge und Disziplin.
Am Anfang ist das noch etwas ungewohnt für Evelyn. Ihr Gedanke ist: „Was? Spring da ein bisschen rum?“ Die Aufgabenstellung ist so frei, wie sie es lange nicht mehr erlebt hat. Doch während der Einheit gehen ihr plötzlich tausend neue Welten auf, bis Evelyn am Ende vor Glück weinend auf den Boden fällt.
So fühlt es sich also an, richtig frei zu sein. Auf einmal lernt sie, was Bewegung alles sein kann und was sie auslöst. Das Fazit: Alles ist Tanz und alles ist Therapie.
Sich selbst und andere heilen – ein schwieriger Prozess
Das Motto der Tanztherapie ist: Egal was und wie du tanzt, es ist Therapie. Du führst bestimmte Bewegungen aus und erzählst damit eine Geschichte. Diese Bewegungen formen dann deine Seele.
Das Konzept begeistert Evelyn so, dass sie die Fortbildung für integrative Tanz- und Bewegungstherapie absolviert. Dann kommt schnell das Interesse nach einer Tanztherapie, die auf Krebspatient:innen abzielt, auf. Gesagt, getan: Schon schließt sie das Modul Tanztherapie für Krebsbetroffene ab. Ein absolutes Nischenthema, was Evelyn am eigenen Leib erfahren muss. Es ist irrsinnig schwer, Menschen für diese Art der Therapie zu begeistern. „Da gibt es eine enorme Hemmschwelle“, gibt sie zu.
Das hindert Evelyn nicht daran, für sich selbst zu tanzen. Sie geht gern mit Freund:innen aus, auch wenn es nicht allzu viele Angebote für ihre Altersklasse gibt, wie sie amüsiert feststellt. Vor allem, wenn man keine Volksmusik mag. Auch zuhause tanzt sie leidenschaftlich gern. „Ich dreh auf und tanze los!“ Ich merke ihr die Begeisterung an.
Falls sich eine Gruppe von begeisterten Tänzer:innen bei ihr melden würde, wäre sie mit einem Fingerschnippen wieder dabei.
Doch nicht nur tanzen kann heilen. Als Evelyn während der Behandlung gefühlt alles (na gut, vielleicht nur fast alles) vergisst, beginnt sie zu schreiben. Zeilen werden zu Seiten und plötzlich bemerkt sie, dass sie ein Buch in den Händen hält. Sie nennt es „Auf der anderen Seite der Glaswand: Wie sich die Welt anfühlt, seit dem Moment der Brustkrebs-Diagnose.“. Es ist das Ergebnis eines Prozesses, in dem sie die Diagnose und Behandlung verarbeitet hat.
Zehn Jahre sind seit der Diagnose vergangen. Der Krebs ist geheilt. Viel hat sich getan. Sowohl Momente der Verzweiflung als auch Momente der Freude haben diese Zeit geprägt. „Manchmal schleift man so zwischen der Verzweiflung und dem Fatalismus ein“, erklärt Evelyn. Sie versucht allerdings, ihre Energie für das Schöne aufzuwenden. Klar kommt hin und wieder ein ungutes Gefühl hoch, vor allem bei Untersuchungen oder gesundheitlichen Problemen im Umfeld, aber Evelyn hat ihren Weg gefunden.
Die Natur, das Motorradfahren als neues Hobby, der Gedanke an ihre Kinder. All das hilft Evelyn, sich auf die positiven Seiten des Lebens zu konzentrieren. Und auch, wenn es manchmal schleppend läuft, tanzt sie durch das Leben.
Quellen:
- Interview mit Evelyn Flatz
- Auf der andern Seite der Glaswand: Wie sich die Welt anfühlt, seit dem Moment der Brustkrebs-Diagnose. (Evelyn Flatz, 2014)
Titelbild: Evelyn Flatz
- Seite 1
- Seite 2
Über die Serie
Jeder Mensch hat zwei Leben. Das zweite beginnt dann, wenn du realisierst, dass du nur ein Leben hast, und die Welt sich anders anfühlt. Durch den massiven Eingriff von Krebs & Co findet ein Sinneswandel statt. Falls dein Lebensweg bisher an Sinn vermissen ließ, wird das im Angesicht der Endlichkeit furchtbar klar.
Die Sinneswandel-Serie beschäftigt mit der Vielfalt an Bewältigungsstrategien, die Krebspatient:innen entwickeln, um mit all den weitreichenden Veränderungen umzugehen. Coping ist eine Kunst, und Kunst sensibilisiert die Sinne. Durch unsere Community wissen wir: Manche haben besonders kreative und authentische Ansätze gefunden. Sie haben inspirierende Geschichten gelebt, Prüfungen bestanden, schwere Entscheidungen getroffen – und wir entnehmen die Essenz dieser Lebenswege und gießen sie in tieftauchende Porträts.