Gesundheit am Land – Von Schlangen, Walen und Kassen
Die medizinische Versorgung am Land ist lückenhaft. Um die alternde Bevölkerung zu entlasten, braucht es neue Versorgungskonzepte. Gesundheitszentren und was noch? Das Gesundheitswesen findet es heraus.
Liebes Tagebuch,
ich bin krank. Ja, ich weiß, immer noch.
Die Wiedereingliederung hat nicht funktioniert. Und trotz all dem Potenzial, dass die Digitalisierung mit sich bringt, hat sie mich erstmal einfach nur überfordert. Meditieren, Sport, ausreichend Schlaf, gesund essen und auch noch arbeiten?! Nope, ich bin noch nicht bereit. Das sagte mir auch mein Immunsystem mittels einer hartnäckigen Verkühlung. Da habe ich die Reißleine gezogen: Raus aus der Stadt, raus dem Trubel! Ich bin den Beton und den Lärm satt.
Folgerichtig bin ich in die Provinz gefahren, aufs Land, wo derzeit alles blüht. Nur sind die Symptome meines Burnouts leider nicht einfach so verschwunden, nur weil die Vögel zwitschern. Ich bin ständig erkältet, weil mein Immunsystem nicht aus dem Vollen schöpfen kann.
Deswegen bräuchte ich dringend einen Arzttermin. Aber die Leitung der Landärztin ist ständig besetzt. Wäre die Digitalisierung schon da, wo sie sein sollte… Meine Fäuste ballen sich. Nein, ruhig bleiben. Durchatmen. Ich würde ja zur Wahlärztin gehen, aber weil ich schon lange nicht mehr gearbeitet habe, fehlt mir das Geld. Ich taumle an der Armutsgrenze entlang. Da bleibt nur noch ein:eine Kassenärzt:in.
Was bisher geschah:
Ich, das Gesundheitswesen, bin überlastet und wurde mit Burnout diagnostiziert. Die Psychotherapeutin riet mir, auf Spurensuche nach meinen Stressoren zu gehen. Zuerst habe ich mich mit dem Personalmangel in der Pflege und dem Problem des Föderalismus beschäftigt.
Nachdem mir ein Bettenfahrer den Weg gewiesen hat, wurde mir klar, wie Wissen über die eigene Gesundheit zur Vorsorge beiträgt. Und welche Armutsfalle Krebs sein kann. Zugleich wurde mir klar: Ich habe Mitstreiter:innen! Diese Erkenntnis hat mich irgendwie dazu motiviert, wieder ins Berufsleben zurückzukehren. Die folgende Wiedereingliederung hat nicht so ganz funktioniert, aber dafür kenne ich jetzt die Vorteile der Digitalisierung.
Also gehe ich auf gut Glück zur einzigen Kassenpraxis im Ort. Und als ich um die Ecke biege, trifft mich der Schlag. Eine Menschenschlange, gut 20 Meter lang – aus der Ordination bis auf den Gang hinaus. Man müsste Schilder aufstellen, auf denen steht: “Wartezeit 50 Minuten”. Ich stelle mich an und schaue mich um. Ausschließlich alte Menschen, kaum einer unter 60.
Nach 40 Minuten komme ich endlich dran und bemerke: Selbst die Ärztin ist um die 60. Während sie mich untersucht, frage ich recht forsch:
“Wie viele Patienten und Patientinnen haben Sie denn am Tag?”
Sie überlegt ein paar Sekunden und antwortet dann nüchtern: “100, 120, sowas um den Dreh”.
Meine Augenbrauen heben sich.
“Aber Sie haben ja heute nur 5 Stunden geöffnet.” Ich rechne kurz nach.
“Dann haben Sie ja bloß zweieinhalb Minuten für jede Einzelperson?!”
“Exakt. Nächster bitte!”
Mir ist schwindlig. Ich dachte, ich würde an Burnout leiden. Aber diese Kollegin hier ist ein ganz anderes Kaliber.
Dann spreche ich die Ordinationshilfe auf die vielen alten Menschen an, die ächzend am Gang stehen. Sie antwortet kurz und kryptisch: “Ein Gesundheitszentrum ist längst überfällig. Dann hätten wir den ganzen Stress nicht. Und könnten unsere älteren Patienten und Patientinnen besser versorgen.”
Aha. Ein neues Wort. Ehe ich nachfragen kann, was es bedeutet, steht schon ein anderer Oldie mit Gehstock am Schalter. Während er in Zeitlupe die elektronische Gesundheitskarte auspackt, schiebt mir die Ordinationshilfe eine Nummer zu.
“Rufen sie Dr. Max Wudy an. Der kann Ihnen weiterhelfen.”
“Ach. Der Vizepräsident der Ärztekammer Niederösterreich. Den kenne ich doch.”
Vor einigen Jahren waren wir zufällig in der gleichen Tourgruppe, um den Kilimanjaro zu erklimmen. Hach, das waren gute Zeiten. Da wollte ich noch die Welt verändern und dachte, es wäre Schicksal, dass ich einen politikgewandten Arzt aus Niederösterreich mitten in Afrika treffe. Über die Jahre haben Zufälle dann irgendwie ihre Bedeutung verloren. Aber in letzter Zeit häufen sie sich wieder. Und jetzt auch noch der Wudy.
Vielleicht doch ein Quäntchen Schicksal?
Auf der nächsten Seite finde ich heraus, warum es das Problem der medizinischen Unterversorgung überhaupt gibt.
Über die Serie
Stell dir vor, das Gesundheitswesen ist ein echtes Wesen. Es atmet, isst, trinkt, verdaut, fühlt. Und wenn es lange überlastet ist, funktioniert es nicht mehr wie sonst. In dieser Serie passiert genau das: Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und muss eine Auszeit nehmen. „Den Auslösern auf den Grund gehen“, wie die Psychologin sagt.
In 20 Tagebucheinträgen beschäftigt es sich mit sich selbst – und deckt nach und nach Probleme, Erfolge und Möglichkeiten auf. Dazu spricht das Gesundheitswesen mit allerlei Fachleuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz übers Bettenfahrern, die Pflegekrise oder Themen wie Föderalismus und Digitalisierung. Am Ende entsteht ein Gesamtbild der aktuellen Herausforderungen im System.