Medikamangelware
Das Gesundheitswesen wird krank – doch es gibt keine Medikamente. Wie kann das sein? Die Suche nach einer Antwort führt unseren Protagonisten von den Niederungen der Innenpolitik über (zu) einfache Lösungen zum Lieferkettenexperten Richard Pibernik – der zwar Antworten parat hat, aber wenig Hoffnung.
Was ich diesmal lerne:
- Medikamente sind nicht immer verfügbar – im Gegenteil.
- Die einfachsten Maßnahmen gegen Medikamentenmangel sind nicht immer die besten.
- Engpässe haben nichts mit Fußball zu tun.
Liebes Tagebuch,
heute bin ich mit Fieber aufgewacht. Gestern ging es mir noch super. Ich war vorsichtig optimistisch, dass mich meine Suche nach den Gründen für meine Überforderung langsam zu einer Lösung führt. In meinem vorigen Eintrag kannst du das übrigens nachlesen.
Was ich aber nicht bemerkt hatte, war die sich anbahnende Grippe. Verdammt, dabei wollte ich genau heute mein Laufband reaktivieren. Ich hatte mir schon die passenden Gesundheitsapps aufs iPhone geladen. Die müssen jetzt noch ein bisschen warten. Dafür kann ich mein vor Kurzem angeeignetes Wissen über Online-Apotheken gleich anwenden – du erinnerst dich sicher an meinen Tagebucheintrag über Digitalisierung im Gesundheitswesen.
Lieferketten und alte Schule
„Alexa, bestell‘ mir ein Fiebermittel“ – „Vorgang nicht möglich“, schnarrt prompt die blecherne Antwort aus dem Lautsprecher. Meine Güte, muss man wirklich alles selbst machen?
Also surfe ich auf die Apothekenseite und tippe selbst ein: „fiebersenkendes Mittel“. Nicht verfügbar. Ich probiere andere Seiten, doch überall dieselbe Antwort. „Produkt ausverkauft.“ Wie bitte? Kann doch nicht sein. Ich rufe in der Apotheke um die Ecke an, dort erklärt mir eine nette Dame, dass Fiebersäfte seit Wochen ausverkauft sind. Es habe wohl „etwas mit den Lieferketten“ zu tun.
Sie gibt mir einen Tipp: „Fahr doch über die Grenze nach Holland, das machen viele. Dort gibt es noch genug Medikamente.“
Was bisher geschah:
Ich, das Gesundheitswesen, bin überlastet und wurde mit Burnout diagnostiziert. Die Psychotherapeutin riet mir, auf Spurensuche nach meinen Stressoren zu gehen.
Nachdem ich mich mit der Pflegekrise und dem Föderalismus auseinandergesetzt habe, wies mir ein Bettenfahrer den Weg. Da wurde mir klar, wie Wissen über die eigene Gesundheit zur Vorsorge beiträgt. Aber auch, welche Armutsfalle Krebs sein kann. Zugleich wurde mir klar: Ich habe Mitstreiter:innen! Ich fühlte mich besser und wollte ins Berufsleben zurückkehren, doch erlitt ich einen Rückfall, weil die Wiedereingliederung nicht funktionierte. Dafür kenne ich jetzt die Vorteile der Digitalisierung. Die Herausforderungen der Versorgung chronisch Erkrankter am Land bereitet mir zwar noch Kopfzerbrechen, ich bin aber insgesamt optimistischer geworden. Bis die nächste Baustelle auftauchte: Medikamentenmangel.
Schaffe ich es, mich zu bessern? Lies die ganze Serie!
Na gut, dann alte Schule. Ich schreibe in die nachbarschaftliche WhatsApp-Gruppe, ob jemand Medizin zuhause hat. Ein paar Minuten später schreibt eine Nachbarin „Hab‘s dir vor die Tür gelegt xx“. Ich reagiere mit einem Herz-Emoji. Gute Seele.
Was zum Teufel…?
Nach ein paar Stunden Schlaf fühle ich mich besser und setze mich vor den Laptop. Ich google wieder: „Medikament nicht verfügbar…“. Die Suchmaschine schlägt elf automatische Ergänzungen vor, ich wähle die oberste: „…was zum Teufel ist da los!??“ Ich bin wohl nicht der erste, der danach sucht.
Was soll ich sagen – ich habe in ein Wespennest gestochen. Anscheinend war mein Fiebersaft nur die Spitze des Eisbergs: Seit einigen Jahren kommt es regelmäßig zu Engpässen bei allen möglichen Medikamenten. Das hatte ich überhaupt nicht am Radar. Verflixt, und ich dachte, ich bin mit meiner Nabelschau bald fertig. Du weißt schon, der Grund für dieses Tagebuch; die Reise zu meinen Stressoren, um mein Burnout zu überwinden – lies das gern nochmal in meinem allerersten Tagebucheintrag nach.
Aber zurück zu meiner Recherche zu Arzneimittelknappheit. Das habe ich herausgefunden:
9 Fakten zum Medikamentenmangel
- Man spricht offiziell von „Engpässen“ – nein, damit sind nicht enge Pässe beim Fußball gemeint.
- Diese Engpässe betreffen Medikamente quer durch die Bank – von den viel zitierten Fiebersäften über Antibiotika, Schmerzmittel, Blutdrucksenker, HIV-Medikamente, Mittel gegen Depressionen, Diabetes oder Herzerkrankungen bis hin zu Krebsmedikamenten.
- Sowohl das deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) als auch das österreichische Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) führen offizielle Listen über Arzneimittel mit Lieferengpässen. Die Links findest du in der Quellenbox am Ende dieses Tagebucheintrags.
- 2023 lag allein in Österreich die Zahl der betroffenen Medikamente bei rund 1.500, in Deutschland bei etwa 1.400.
- Bei den Krebsmedikamenten waren laut Medienberichten in den vergangenen Jahren unter anderem das bei Chemotherapien eingesetzte Ribofolin betroffen, Fluorouracil – ein Mittel zur Behandlung von Brust- und Darmkrebs – und Tamixofen, ein Östrogen-Hemmer, der bei der Brustkrebsbehandlung eingesetzt wird.
- Es handelt sich fast nur um Generika. Darunter versteht man sogenannte Nachahmer-Präparate, deren Wirkstoffe identisch sind mit denen eines ursprünglich patentgeschützten Medikaments. Patente laufen in der EU meist nach 20 Jahren aus; dann dürfen auch andere Hersteller:innen das jeweilige Arzneimittel produzieren. Diese sind oft günstiger. Acht von zehn verschreibungspflichtigen Medikamenten sind solche Generika.
- Um gegen Engpässe vorzugehen, trat im Juli 2023 das Gesetz mit dem wohl kompliziertesten Namen im deutschen Gesetzbuch in Kraft – das „Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz“ (kurz ALBVVG – auch nicht viel einfacher). Die Wirksamkeit ist umstritten: Während das Gesundheitsministerium berichtete, es gäbe nun weniger Engpässe etwa für Kinderarzneimittel, kamen Umfragen bei Kinderärzt:innen und Apotheken zur gegenteiligen Einschätzung.
- In Österreich wurde die Pharmaindustrie im Juni 2024 per Erlass dazu verpflichtet, ihre Lagerbestände für kritische Arzneimittel zu erhöhen. Sie muss nun von rund 700 wichtigen Medikamenten genügend einlagern, um einen Bedarf von vier Monaten abzudecken.
- Das wurde von der Pharmaindustrie prompt kritisiert: Nationale Vorratslager seien nicht die richtige Lösung, erklärte der Verband der pharmazeutischen Industrie (PHARMIG). Die Versorgung könne nur europaweit gelöst werden.
Uff, mir brummt der Schädel. Zu viel Info, ich lege mich nochmal hin.
Auf der nächsten Seite spreche ich mit einem Experten für Lieferketten – blättere um!
Über die Serie
Stell dir vor, das Gesundheitswesen ist ein echtes Wesen. Es atmet, isst, trinkt, verdaut, fühlt. Und wenn es lange überlastet ist, funktioniert es nicht mehr wie sonst. In dieser Serie passiert genau das: Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und muss eine Auszeit nehmen. „Den Auslösern auf den Grund gehen“, wie die Psychologin sagt.
In 20 Tagebucheinträgen beschäftigt es sich mit sich selbst – und deckt nach und nach Probleme, Erfolge und Möglichkeiten auf. Dazu spricht das Gesundheitswesen mit allerlei Fachleuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz übers Bettenfahrern, die Pflegekrise oder Themen wie Föderalismus und Digitalisierung. Am Ende entsteht ein Gesamtbild der aktuellen Herausforderungen im System.