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Das Gesundheitswesen schreibt Tagebuch
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Medikamangelware

Das Gesundheitswesen wird krank – doch es gibt keine Medikamente. Wie kann das sein? Die Suche nach einer Antwort führt unseren Protagonisten von den Niederungen der Innenpolitik über (zu) einfache Lösungen zum Lieferkettenexperten Richard Pibernik – der zwar Antworten parat hat, aber wenig Hoffnung.

Ich kann nicht einschlafen. Der letzte Satz schwirrt weiter durch meinen Kopf. Europaweite Lösung… was heißt das eigentlich?

Für die meisten Politiker:innen und Medien scheint das vor allem folgendes zu heißen: Medikamente müssen hier in Europa hergestellt werden statt in Übersee. Denn die Arzneimittelherstellung ist ein globales Geschäft, und die meisten und größten Produzent:innen von Wirkstoffen sitzen in China und Indien. Für die ist Deutschland eine Kundin unter vielen und nicht unbedingt ganz oben auf der Prioritätenliste. Zuallererst wird ohnehin für den eigenen Heimatmarkt produziert.

Frage an das Universum: Würden wir das nicht auch so handhaben, wären mehr herstellende Betriebe hier angesiedelt? Keine Antwort. War auch rhetorisch gemeint.

Mia san mia! Oder?

Was kann man gegen diese Abhängigkeit von China und Indien unternehmen? Ist doch logisch: Die Fabriken müssen bei uns stehen! Zugegeben: Klingt ein bisschen wie eine Art „Mia-san-mia“-Reaktion auf Europa-Ebene, um es auf gut bayerisch zu sagen (auf Deutsch: “Wir sind wir”).

Aber macht das nicht auch tatsächlich Sinn?

Es wird Zeit, dass ich aufhöre, Kaffeesud zu lesen und mit jemandem darüber spreche, der sich auskennt. Ich muss sofort an meinen alten Kumpel Richard Pibernik denken. Ich hatte ihn in jüngeren Jahren auf einem Interrail-Trip in Spanien kennengelernt, wo er damals an der Uni in Saragossa arbeitete und mir Tipps für die besten Tapas-Bars gegeben hatte.

Schon damals hatte er mir erzählt, dass er sich mit Lieferketten-Logistik beschäftigt. Ich verstand natürlich nur Bahnhof.

Pakete halten sich an den Händen
Ist die Lieferkette wirklich am Medikamentenmangel schuld? (Illustration: Lena Kalinka)

Was Richard sagt

Ich google ihn und mache Richard an seiner neuen Arbeitsstelle ausfindig. Wobei „Stelle“ eine Untertreibung ist – inzwischen bekleidet er einen Lehrstuhl für „Logistik und Quantitative Methoden in der Betriebswirtschaftslehre“ an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg. Er meldet sich sofort, als ich ihn an-teamse. Er ist im Home Office.

„Hallo Richard, hier das Gesundheitswesen. Wir kennen uns aus Spanien. Warum gibt es eigentlich so viele Medikamentenengpässe?

Etwas verdutzt mustert er mich, dann: Wiedererkennung. Ohne zu fragen, warum eine Zufallsbekanntschaft von vor 20 Jahren ihn aus heiterem Himmel anruft, legt er los: „Bei Generika wurde so extrem gespart, dass immer mehr Unternehmen ausgeschieden sind. Der Kostendruck wurde größer, dadurch ist immer mehr dieser Produktion weggewandert, konkret nach China und Indien.“

Flugtickets
Extreme Sparmaßnahmen zwingen die Generika zur Auswanderung. (Illustration: Lena Kalinka)

Profit vs. gerechte Verteilung

Okay, so weit war ich auch schon in meinen Recherchen. Aber warum ist das eigentlich ein Problem? Er erklärt es mir so: Einerseits ist die Gesamtzahl der Hersteller:innen für ein Generika-Medikament gesunken. Für manche Krebsmedikamente gibt es nur noch eine oder zwei Firmen; das trifft etwa auf die breit eingesetzte Brustkrebsarznei Tamixofen zu, die ich schon erwähnt habe.

Andererseits: „Die wenigen Anbieter, die es noch gibt, agieren auf dem globalen Markt und verkaufen dorthin, wo es am meisten Profit gibt.“ Er spricht es nicht aus, aber ich denke mir: Das sind nicht immer Deutschland, Österreich oder die Schweiz. Und das, obwohl diese Länder zu den reichsten der Welt gehören.

Zu den akuten Engpässen kommt es meist dann, wenn es Krankheitsausbrüche wie Grippewellen gibt, oder es Probleme in der Lieferkette gibt, weil Zulieferer ausfallen.

Da ist es, das L-Wort! Ich werde hellhörig. Lieferkette. Die hatte die Apothekerin schon erwähnt.

Problemketten und Kaffeefahrten

Doch Richard redet nicht weiter, er kämpft gerade mit seinem Computer, um die Teams-Verbindung aufrecht zu erhalten. „Wir sind hier in Deutschland echt in der Internet-Einöde“, schimpft er. Er schaltet seine Kamera aus. Die Verbindung wird besser.

Richard, du wolltest gerade etwas über die Lieferketten sagen. Das ist doch auch dein Forschungsgebiet, nicht wahr?

„Ja, genau“, sagt das Standbild auf meinem Screen.

Monitor Spricht
Auch Standbilder können einleuchtende Erklärungen liefern. (Illustration: Lena Kalinka)

Richard schildert das Problem anhand des Tamixofen-Engpasses (der inzwischen übrigens wieder aufgehoben wurde). Dieses Medikament wird zwar von einem Hersteller in Europa gemacht, doch fehlte ein Hilfsstoff – „nicht mal der eigentliche Wirkstoff also“. Ein Schräubchen in der Lieferkette funktionierte nicht mehr und brachte die komplette Produktion zum Erliegen.

Und das führt dann zu Kuriositäten wie Frauen, die Kaffeefahrten ins Ausland machen, um dort noch irgendwie Medikamente zu bekommen.
Richard Pibernik

Zu einfach, um wahr zu sein

Verstanden – die Arzneimittelherstellung ist also komplex, findet mit wenigen Ausnahmen in China oder Indien für den Weltmarkt statt, und es gibt zu wenige Anbieter:innen pro Arznei, die ihrerseits auf zu wenige zuliefernde Firmen angewiesen sind – die aber nicht immer liefern können. Da kommt es dann rasch mal zu einem Totalausfall.

„Aber Richard, wäre es dann egoistischerweise nicht tatsächlich besser, die gesamte Produktion einfach nach Europa zu verlegen, wie das oft gefordert wird?“

„Nee, dem stimme ich nicht zu. Das ist zu einfach gestrickt. Natürlich hätten wir die höchste Versorgungssicherheit, wenn wir alles in Deutschland oder Europa produzieren. Das ist aber wirtschaftlich und auch technisch nicht sinnvoll.“

Auf der nächsten Seite erzähle ich dir, wie Richard Pibernik das Problem lösen würde.

Über die Serie

Stell dir vor, das Gesundheitswesen ist ein echtes Wesen. Es atmet, isst, trinkt, verdaut, fühlt. Und wenn es lange überlastet ist, funktioniert es nicht mehr wie sonst. In dieser Serie passiert genau das: Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und muss eine Auszeit nehmen. „Den Auslösern auf den Grund gehen“, wie die Psychologin sagt.

In 20 Tagebucheinträgen beschäftigt es sich mit sich selbst – und deckt nach und nach Probleme, Erfolge und Möglichkeiten auf. Dazu spricht das Gesundheitswesen mit allerlei Fachleuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz übers Bettenfahrern, die Pflegekrise oder Themen wie Föderalismus und Digitalisierung. Am Ende entsteht ein Gesamtbild der aktuellen Herausforderungen im System.

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