Pflegekrise oder Krisenpflege?
Was, wenn das Gesundheitswesen ein Mensch wäre – mit Gefühlen und Bedürfnissen wie du und ich? Genau: Es wäre überlastet. Komm mit auf unsere Gedankenreise und begleite das Gesundheitswesen bei der Suche nach sich selbst – und nach Lösungen für die Zukunft.
Liebes Tagebuch,
ich bin müde. So müde. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen habe. Es ist mein Kopf, er macht ständig weiter. Wie eine Maschine, die ich nicht abschalten kann. Und wenn ich doch kurz wegnicke: Unruhige Träume. Gesichter. Patient:innen. Menschen, die an mir verzweifelt sind.
So geht das jetzt schon eine ganze Weile. Und es ist nicht nur die Müdigkeit, die mich fertig macht. Ich bin verspannt, mein Rücken tut weh, das Herz rast, ich schnappe nach Luft. Zu viel Kaffee, zu viele Zigaretten (unglaublich eigentlich, ich rauche wieder).
Kurzum: Es geht mir prächtig. Not.
Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und begibt sich auf Ursachenforschung. Was findet es heraus?
Etwas hat sich verschoben. Was wurde aus meinem Engagement, meinem Einsatz für die Patient:innen? Einst glaubte ich an das Gute. Heute besteht mein Leben aus Routine. Hab damals das Leben genossen – heute ist es grau wie ein November in Köln. Früher ließ ich’s mir gut gehen: Ließ mich von renommierten Wirten bekochen, hatte aufregende Affären. Heute? Mein Lieblingsrestaurant heißt Lieferando, befriedigen kann ich mich nicht mal mehr selbst. What the… Was ist nur aus mir geworden?
Ich spür mich nicht mehr.
Manchmal denke ich mir: Ich sollte mit jemandem darüber reden. Aber mit wem soll ein Gesundheitswesen sich schon austauschen? Deshalb habe ich beschlossen, Tagebuch zu führen. Ich weiß nicht, ob es mir hilft. Aber besser als nichts.
Pflegekrise? Krisenpflege!
Also ein Tagebuch. Und ich kann berichten: Heute habe ich mich gleich wieder geärgert. Zeitunglesen beim Frühstück (meine geliebte FAZ): Wieder ein Bericht über die angebliche Pflegekrise. Da wird doch maßlos übertrieben. Ich sage immer: In Wirklichkeit wird in den Medien Krisenpflege betrieben.
Denn so schlimm kann es wohl nicht sein. Lustlosigkeit hin oder her – ich mach meine Arbeit doch ganz gut. Oder? Außerdem: Ich kann nicht alles gleichzeitig regeln. Ich hab mit den überlasteten Krankenhäusern derzeit schon genug um die Ohren.
Der Artikel lässt mich aber nicht los, deshalb beschließe ich, mir das selbst anzusehen. Ich rufe Martina Spalt an. Eine alte Bekannte: Sie arbeitet schon seit 20 Jahren in der Pflege. Als Cancer Nurse in Wien. Neuerdings auch als “Fachbereichskoordinatorin für kollegiale Beratung”, erzählt sie mir gleich am Anfang.
Martina: blauer Pulli, kurzes Haar, sympathisches Lächeln. Rollendes R. Sie stammt aus Westösterreich: Vorarlberg. Das hört man ihr auch nach über 25 Jahren in Wien noch an. Martina ist hochqualifiziert, studiert, arbeitet gleichzeitig an ihrer Masterarbeit. Außerdem ist sie Präsidentin der “Austrian Association of Advanced Nursing Practice”, setzt sich also für die Belange von Pflegefachkräften ein.
Auf der nächsten Seite liest du, was Martina mir zu erzählen hat.
Über die Serie
Stell dir vor, das Gesundheitswesen ist ein echtes Wesen. Es atmet, isst, trinkt, verdaut, fühlt. Und wenn es lange überlastet ist, funktioniert es nicht mehr wie sonst. In dieser Serie passiert genau das: Das Gesundheitswesen erleidet ein Burnout und muss eine Auszeit nehmen. „Den Auslösern auf den Grund gehen“, wie die Psychologin sagt.
In 20 Tagebucheinträgen beschäftigt es sich mit sich selbst – und deckt nach und nach Probleme, Erfolge und Möglichkeiten auf. Dazu spricht das Gesundheitswesen mit allerlei Fachleuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz übers Bettenfahrern, die Pflegekrise oder Themen wie Föderalismus und Digitalisierung. Am Ende entsteht ein Gesamtbild der aktuellen Herausforderungen im System.