Vom Soldat zum Psychoonkologen – Der krasse Sinneswandel des Carsten Witte
Carsten Wittes Lebensweg ist kaum nachahmbar. Acht Jahre verpflichtet er sich dem Militär, ohne genau zu wissen, warum. Mit der Diagnose Knochenkrebs bahnt sich dann ein großer Wandel an. Ein Porträt über einen Menschen, bei dem Krebs einen positiven Platz, weit über die Erkrankung hinaus, eingenommen hat.
An einem dieser Märztage, wenn die Sonne sich mit großer Mühe gerade noch einen Weg durch die Wolken bahnt, sodass alles in fades, milchiges Licht gebadet scheint, trete ich in digitaler Form (mit analog leerem Magen) einem gut gelaunten und zugleich nachdenklichen Carsten Witte entgegen. Unser Treffen hat sich angebahnt. (Wieso also habe ich es nicht geschafft, vorher etwas zu essen?)
Die Vorgeschichte: Meine Kollegin Lena hat vor ein paar Monaten erstmals allein einen Kongress besucht. Nervenaufreibende Sache. Wäre da nicht dieser sympathische Psychoonkologe namens Carsten gewesen, mit dem sie bis um drei Uhr morgens beim Münchner Olympiastadion übers Leben philosophierend Runden zog. Cooler Typ, meinte sie am nächsten Bürotag. Wochen später ergänzte sie, dass dieser tiefsinnige Psychoonko-Carsten mal acht Jahre beim Militär war. Hätte ich etwas im Mund gehabt, hätte ich es sicher ausgeprustet.
VOR KREBS
Identität: Stabsunteroffizier Witte/krass verplanter Freizeit-Carsten
Carsten entpuppt sich gleich zu Beginn als die Definition von “gesprächig” und beginnt, ohne jegliche Zurückhaltung, zu erzählen. Geboren in der DDR der 80er, ist der Vater früh gestorben und die Familie oft umgezogen, bis es Mutter Witte und den Junior nach Freiburg verschlägt. Carsten ist ein vorbildlicher Pubertärer und gibt sich aufmüpfig. Logische Folge: Schule abbrechen! So weit, so gut.
Irgendwann in den 2000ern zwangsbeglückt der Bund den 18-jährigen Carsten mit der Wehrpflicht. Der findet das gar nicht so unchillig, denn bis zu diesem Zeitpunkt hat sich eh nichts am Horizont aufgetan. Beim Militär wird einem der Tag vorgekaut und durch das ständige Umsiedeln hat Carsten das Anpassen schon voll drauf. Frühmorgens brüllt eine autoritäre Stimme ihm ins Gesicht, was er so zu tun hat. Dann tut er das. Ende. Einfach.
Im Endeffekt verpflichtet er sich als Zeitsoldat für acht Jahre. Finanzielle Sicherheit ist ein Grund, Mangel an Perspektiven ein anderer. Zum Stabsunteroffizier bildet man ihn aus, gibt ihm ein Büro und die Befehlsgewalt über dreißig Kameraden. Logistik heißt das Spiel, eine große Lagerhalle ist das Spielfeld. Wie eine Amazon-Lagerhalle, nur halt Bundeswehr – mit Waffen statt Waren.
Carsten macht seinen Job vorbildlich, ist ein Organisationstalent und zuverlässig. Nur, sobald er heimfährt und den Camouflage auszieht, verwandelt er sich in einen gänzlich anderen Menschen. Freizeit-Carsten lebt in den Tag hinein, gibt sich als lockerer Zeitgenosse à la Stammgast und steht mit seinen Witzen gern im Mittelpunkt. Wie viele von uns oft schmerzhafterweise herausfinden, ist ein Doppelleben das Resultat daraus, dass man nicht so recht weiß, wo man hingehört. So auch bei Carsten. Wo also ist der Sinn, das Ziel?
Auf der nächsten Seite erfährst du, wie die Krebsdiagnose Carstens Leben verändert hat.
Über die Serie
Jeder Mensch hat zwei Leben. Das zweite beginnt dann, wenn du realisierst, dass du nur ein Leben hast, und die Welt sich anders anfühlt. Durch den massiven Eingriff von Krebs & Co findet ein Sinneswandel statt. Falls dein Lebensweg bisher an Sinn vermissen ließ, wird das im Angesicht der Endlichkeit furchtbar klar.
Die Sinneswandel-Serie beschäftigt mit der Vielfalt an Bewältigungsstrategien, die Krebspatient:innen entwickeln, um mit all den weitreichenden Veränderungen umzugehen. Coping ist eine Kunst, und Kunst sensibilisiert die Sinne. Durch unsere Community wissen wir: Manche haben besonders kreative und authentische Ansätze gefunden. Sie haben inspirierende Geschichten gelebt, Prüfungen bestanden, schwere Entscheidungen getroffen – und wir entnehmen die Essenz dieser Lebenswege und gießen sie in tieftauchende Porträts.