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Krebs und Identität
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Vom Soldat zum Psychoonkologen – Der krasse Sinneswandel des Carsten Witte

Carsten Wittes Lebensweg ist kaum nachahmbar. Acht Jahre verpflichtet er sich dem Militär, ohne genau zu wissen, warum. Mit der Diagnose Knochenkrebs bahnt sich dann ein großer Wandel an. Ein Porträt über einen Menschen, bei dem Krebs einen positiven Platz, weit über die Erkrankung hinaus, eingenommen hat.

WÄHREND KREBS

Identität: Spielball des Universums  

Nach sechs Jahren Militärmäandern reicht es dem Schicksal und es fetzt ihm eine gehörige Portion Ziel ins Gesicht: Überleben! Im zarten Alter von 24 geht Carsten wegen Schmerzen nichtsahnend zum Arzt, welcher meint, dass er seinen linken Arm verlieren könnte. Denn was Carsten für seinen stählernen Knochen hält, ist in Wirklichkeit ein bösartiger Tumor.  Carsten hat Knochenkrebs.

Der Arzt muss nach der Überbringung dieser unheilvollen Nachricht gleich weiter und lässt Carsten mit seinen plötzlichen Ängsten vollkommen allein. So viele unbeantwortete Fragen, hängend in der sterilen Klinikluft. Dieser Moment löst etwas in Carsten aus. So schmerzhaft es auch ist, es ist der Beginn seines neuen, sinnbringenden Lebens.

Die Chemo beginnt zunächst, erweist sich aber recht bald als obsolet. Glücklicherweise findet sich ein Arzt, der armerhaltend operieren kann. Seitdem ist Carstens linker Arm verkürzt. Ich merke es ihm kaum an, so grazil verwendet er ihn mittlerweile. “Man nennt mich liebevoll T-Rex“, fügt er hinzu und findet das lustiger, als manche es ihm erlauben würden.

in Verband gehüllter Arm von Carsten Witte, auf dem
Carstens linker Arm nach der Operation. Tumor sucks indeed! (Foto: Carsten Witte)

Coping

Während Krebs: Spiritualität als krass beruhigende Kraftquelle 

Das über die Jahre stärker werdende Bewusstsein für die Welt des Geistes stellte sich als Carstens größte Kraftquelle während der Krebsbehandlung heraus. “Wenn es meinem Geist gut geht, kann sich mein Körper auf die Genesung konzentrieren”, so sein Ansatz, der auch auf logischer, körperlicher Ebene durchdacht war.

Wenn der Körper nämlich im beunruhigten Zustand Adrenalin pumpt, ist das Immunsystem eingeschränkt. Das bedeutet: ruhig bleiben, möglichst widerstandslos akzeptieren und so dem Körper seine vollen Kapazitäten ermöglichen. Während der Chemo hat Carsten also viel meditiert und ist stundenlang auf Fantasiereisen gegangen. Dabei hat er die “Chefkrebszelle” aufgesucht, mit ihr ein Bierchen gekippt und ihr gesagt, dass sie nur bleiben darf, wenn sie keinen Ärger mehr macht. 

Nach Krebs: Spiritualität als krass bewusstes Wohlwollen 

Die Basis von Carsten ist immer noch die gleiche, aber der Spirit hat sich erweitert und das Bewusstsein vertieft. Nach positiven spirituellen Gewohnheiten gefragt, nennt er die Metta-Meditation. Metta entstammt dem Hinduismus und bezeichnet die wohlwollende Einstellung allen Wesen gegenüber. Ein universelles “Ich wünsche dir das Beste” an die Welt.

Durch die Kultivierung dieser Grundhaltung vervielfältigt sich das Sentiment und wird einem zurückgeworfen. Man könnte es auch Law of Attraction nennen, wenn einem durch solch positives Gedankengut stets die richtigen Menschen begegnen. Bin ich auch einer davon? Hmmm. 

NACH KREBS

Identität #1: „Der mit dem Arm“

Aufgrund mangelnder Alternative kehrt Carsten erstmal zur Bundeswehr zurück, wo sein Stabsunteroffizier-Ich einen langsamen Egotod stirbt. Carsten wird angegafft wie im Zoo, man ruft ihn “Der mit dem Arm”. Zugehörigkeit – Fehlanzeige. Der Sinn des Ganzen – unauffindbar. Aber zwei Jahre sind noch zu absolvieren und die Frist lässt Carsten in ein Loch fallen.

Fun Fact: Für Sinnsuchende sind Löcher extrem produktive Orte.

Smiley-Tatto über Carstens Brust
An dem Ort, an dem der Port hätte sein sollen, lacht Carsten jetzt ein Smiley entgegen. (Foto: Carsten Witte)

Identität #2: Psychoonko-Carsten

Während dieser Zeit bemerkt Carsten das große Thema, das ihn beschäftigt: Was hält den Menschen gesund? Wie bewahren Menschen in schwierigen Zeiten die Lebensqualität? “Es gibt kein Rezept, keine Aussage vom Arzt, keine Pille, die einem die Lebensqualität wieder bringt. Jeder ist für sich selbst zuständig. Die Menschen sind stellenweise so hilflos in solchen Situationen.” Es braucht also jemanden, der sie lotst, der eine ähnliche Erfahrung gemacht hat und einen Weg weisen kann, wie es trotz der beschissenen Umstände gut sein kann.  

Und so kommt Carsten mit Karacho aus seinem Loch geschossen und studiert Gesundheitspädagogik, um zu seiner finalen Form zu mutieren: Psychoonko-Carsten! Der Lebensabschnitt, in dem die Lehren des tückischen Hindernisparcours schlussendlich in Sinn kulminieren, und seine Rolle sonnenklar wird. Als psychosozialer Begleiter im Freiburger Zentrum für Strahlentherapie weist er heute Krebspatient:innen den Weg zu psychischem Wohlergehen.

“Nicht gegen Krebs, aber für einen selbst”, meint er wohlwollend. Wenn jemand um die folgenreiche Transmutation einer erfolgreich absolvierten Krebserkrankung weiß, dann Carsten.

Psychoonko-Carsten hat uns an der ein oder anderen Stelle bereits seine Expertise zur Verfügung gestellt. Beispielsweise in diesem Artikel zum richtigen Coping hier: Doppelbelastung aus der Hölle: Depression & Krebs.

Identität #3: Selbsthilfegruppe-Carsten

Anhand seiner eigenen Erfahrung hat Carsten folgendes erkannt: Das Schlimme an Krebs ist nicht zwangsläufig die körperliche Nebenwirkung, sondern der psychische Aspekt, die soziale Isolation. “Krebs ist eine ganzheitliche Krankheit. Mit Chemo, OP & Co wird man ihn vielleicht auf physischer Ebene los, aber im Kopf ist er immer noch.”  

Diese Negativspirale aus Trauer, der Hinterfragung allen Lebenssinns und der Konfrontation mit dem Tod endet nicht einfach so, nur weil die Behandlung vorüber ist. In dieser Zeit liegt der Imperativ auf der Verarbeitung. Und auch wenn Familie und Freund:innen Verständnis für die Situation aufbringen und es schön ist, wenn sie zuhören – für Carsten stellte sich schnell heraus, dass es nicht ihre Aufgabe ist, den ganzen Dreck nachzuvollziehen.

Bloß: Ein Vakuum tut sich auf, wenn man niemanden hat, der:die ganz genau versteht, was man durchgemacht hat.  

Das gesamte Team von Jung und Krebs Freiburg
Bei Jung und Krebs inspiriert man sich gegenseitig zum selbstbestimmten Leben nach oder mit Krebs. (Foto: Jung und Krebs Freiburg e.V.)

Wie dieses Vakuum zur Gründung einer Selbsthilfegruppe führen konnte? Lies weiter auf Seite 3.

Über die Serie

Jeder Mensch hat zwei Leben. Das zweite beginnt dann, wenn du realisierst, dass du nur ein Leben hast, und die Welt sich anders anfühlt. Durch den massiven Eingriff von Krebs & Co findet ein Sinneswandel statt. Falls dein Lebensweg bisher an Sinn vermissen ließ, wird das im Angesicht der Endlichkeit furchtbar klar.

Die Sinneswandel-Serie beschäftigt mit der Vielfalt an Bewältigungsstrategien, die Krebspatient:innen entwickeln, um mit all den weitreichenden Veränderungen umzugehen. Coping ist eine Kunst, und Kunst sensibilisiert die Sinne. Durch unsere Community wissen wir: Manche haben besonders kreative und authentische Ansätze gefunden. Sie haben inspirierende Geschichten gelebt, Prüfungen bestanden, schwere Entscheidungen getroffen – und wir entnehmen die Essenz dieser Lebenswege und gießen sie in tieftauchende Porträts.

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